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Die Unzertrennlichen

Die Unzertrennlichen

Titel: Die Unzertrennlichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilian Faschinger
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einem in Fleisch und Blut über. Bis man sich schuldig fühlt. Sich schuldig spricht. Bis man an seine Minderwertigkeit glaubt. Sie wollen ihn aus dem Dorf weghaben. Jeder will ihn loswerden. Nur weil er anders ist.« Nun wurde er wütend. »Er hat nie jemandem etwas zuleide getan, aber alle fallen über ihn her! Sogar der Doktor König, dein Bekannter, der Arzt ist und Verständnis mit einem benachteiligten Menschen haben müsste, macht mit bei der Hetze.« Er schwieg und schaute finster. Dann setzte er sich aufrecht hin. »Aber ich werde dir jetzt was sagen, Sissi: Der hat selbst Dreck am Stecken, der Doktor König. Der ist ein Lügner. Dem wäre es nur recht, wenn Florian verurteilt wird. Alle im Dorf bewundern und verehren den Doktor, alle Frauen himmeln ihn an – aber das ist er nicht wert!«
    Ich horchte auf.
    »Komm zur Sache«, drängte ich. »Sag, was du sagen willst!«
    »Er behauptet, dass seine Frau ertrunken ist. In Italien. Niemand bezweifelt es. Aber ich weiß, dass es nicht stimmt.«
    »Was meinst du damit?«
    Ich war hellwach.
    »Sie kann nicht in Italien gestorben sein.« Er schaute mich an. »Weil sie lebend mit ihm zurückgekommen ist.« In seinem Blick lag eine Art triumphierende Schläue. »Ich habe sie beobachtet. Am Abend nach ihrer Rückkehr aus dem Urlaub. Im Mai vor zwei Jahren. Es war spät. Ich bin zufällig an ihrem Haus vorbeigegangen, als sie ankamen. Ich habe Florian gesucht – manchmal, wenn es draußen warm ist, vergisst er, nach Hause zu kommen, und übernachtet im Freien. Sie sind aus dem Auto gestiegen, haben sich angeschrien. Er hat das Gepäck aus dem Kofferraum gehoben, dann sind sie ins Haus gegangen. Ich hab durch ein Fenster geschaut und gesehen, wie sie sich weiter gestritten haben. Wie er sie an den Schultern gepackt und geschüttelt hat. Es hat mich so abgestoßen, dass ich weggelaufen bin. Ich schwöre es dir, Sissi, ich sage die Wahrheit. Es war dunkel, sie haben mich nicht gesehen. Aber ich sie. Du musst mir glauben.«
    Seine eindringlichen Beteuerungen waren nicht nötig. Ich glaubte ihm. Alles passte zusammen.
    »Warum hast du nie etwas gesagt?«
    »Wer hätte mir geglaubt? Was gilt das Wort eines armen Teufels, eines Hilfsarbeiters mit einem geistig beschränkten Bruder? Gegen das eines angesehenen, wohlhabenden Mannes? Der bei allen beliebt ist. Weil er sich um kranke Kinder kümmert, Kinder heilt.« Er schwieg, seine Miene verzerrte sich. »Der turmhoch über mir steht!« Er begann zu weinen. »Du bist Ärztin, Sissi«, sagte er schluchzend. »Dir wird man Glauben schenken. Hilf meinem Bruder.«
    Ich schaute ihn an. In seinem Blick lag keine Spur von dem Spott, der Unverfrorenheit, Anzüglichkeit und leisen Verachtung, die bei unserer Begegnung vor dem niemals fertig gewordenen Haus meiner Eltern darin zu erkennen gewesen waren. Mit einem Mal war ich nicht mehr der Bastard mit der ortsfremden Mutter. Wahrscheinlich hatte er sich an mich gewandt, gerade weil ich eine halbe Ausländerin war. Denn alle Einheimischen, alle, die keine Fremden waren, hatten sich gegen seinen Bruder, einen der Ihren, verschworen.
    Noch immer glaubte ich nicht daran, dass Stefan ein so schweres Verbrechen begangen hatte. Mit aller Verbissenheit sträubte ich mich gegen diese Einsicht. Doch dass Florian schuldlos war, stand für mich fest. Und dass ein Unschuldiger für die Tat eines anderen einstehen sollte, ein leidender Mensch, ein halbes Kind, war nicht in Ordnung, ganz und gar nicht. Das durfte man nicht zulassen. Ich würde die Polizei anrufen und aussagen, was ich wusste. Was ich noch nicht wusste, war, dass die Polizei mir zuvorkommen und mich anrufen würde.
    Rückblickend betrachtet, war es mehr als waghalsig, ja, vollkommen unvernünftig, wieder zu Stefan ins Winzerhaus zurückzukehren. Aber ich konnte nicht anders. Der Instinkt, der mich vor drohender Gefahr warnte und auf den ich mich normalerweise verlassen konnte, funktionierte nicht mehr, er war längst überlagert von dem obsessiven Drang, bis ins kleinste Detail zu ergründen, was vorgefallen war.
    Als ich zurückkam, waren die Kerzen in der Stube bis auf zwei niedergebrannt. Stefan saß, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, im Dunkeln im Schaukelstuhl und wippte leicht vor und zurück. Bei meinem Eintreten erhob er sich und schloss mich in die Arme. In diesem Augenblick läutete sein Handy, das auf dem Tisch lag. Er ging hin, griff danach, blickte kurz auf das Display und nahm das Gespräch entgegen. Ich verließ

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