Die Unzertrennlichen
unschuldig im Gefängnis gesessen!«
»Unschuldig, dass ich nicht lache!«, schrie Brandmeister Haas. »Er hat einen slowenischen Partisan mit dem Gewehrkolben erschlagen, so ist es gewesen, so und nicht anders. Ein feiger Mörder, dein bester Freund!«
»Was sagst du da?!«
Mein Großvater ging heftig wankend um den Tisch herum und stürzte sich auf Brandmeister Haas, der ihn packte, hochhob, vor sich auf den Boden stellte und ihm einen Faustschlag ins Gesicht versetzte. Der Großvater griff sich an die Nase, fiel um und blieb liegen. Meine Großmutter warf sich auf ihn.
»Um Himmels willen, Ägyd, Ägyd, sag doch was! Heilige Maria, Mutter Gottes, er hat ihn umgebracht, der Haas hat meinen Mann erschlagen!«
Da machte der Großvater die Augen auf. »Hör auf mit dem Theater, Toni, gib mir einen Schnaps!«
Inzwischen war es weit nach Mitternacht, die meisten hatten die Festwiese verlassen, die schon lange im Dunkeln lag. An unserem Ende des Tisches saßen nur noch, mir gegenüber aufgereiht, meine mittlerweile stark alkoholisierte Tante Dagmar, der immer noch muntere Onkel Rudolf und die stocknüchterne Witwe Dirnböck mit dem scharfen Blick. Jemand setzte sich neben mich. Eine Hand legte sich leicht auf meinen rechten Oberschenkel.
»Du hast aber ganz schön lange ausgehalten, Prinzessin«, sagte Stefan.
Ich hatte mich an diesem Nachmittag und Abend gelegentlich nach ihm umgesehen, ihn aber nirgends entdeckt.
»Ach, der Doktor – der Doktor – wie heißt er schon –«, lallte meine Tante Dagmar und streckte eine schlaffe Hand aus. »Was ist jetzt eigentlich mit Ihnen – mit Ihnen und –« Die Hand pendelte langsam zwischen mir und Stefan hin und her.
Stefan zog mich hoch. »Gehen wir?«, fragte er.
»Aber Herr Doktor, bleiben Sie doch ein bisschen«, sagte die Witwe Dirnböck mit einem gewinnenden Lächeln. »Es ist uns eine Ehre, noch dazu, wo Sie die Pfarre mit einer so reichlichen Spende bedacht haben. Eine solche Großzügigkeit! Wirklich, eine solche Ehre!«
»Die wollen nicht bleiben«, sagte Onkel Rudolf, »die wollen ganz woanders hin.« Er lachte laut und trank seinen Schnaps aus. Ein Teil der Flüssigkeit lief aus seinem linken Mundwinkel. Die partielle Gesichtslähmung. Er konnte es nicht verhindern.
Abermals landete ich im Ehebett des Ehepaares König – denn genau genommen waren Regina und Stefan das noch. Es sollte nicht das letzte Mal sein, und ich wusste es. Diesmal intervenierte das Phantom Regina kaum. Was wir in dem harten, breiten Bett taten, gefiel mir, und ich hatte den Eindruck, dass es auch Stefan Spaß machte. Wie von selbst bewegten sich unsere Körper so, dass ich ein Optimum an Genuss empfand, wie von selbst fielen sie in einen angenehmen, langsamen Rhythmus, der Befriedigung für beide garantierte. Deshalb war ich überrascht, als Stefan mich plötzlich umdrehte, heftig von hinten in mich eindrang und irgendetwas wie »Schlampe« hervorkeuchte. Ich war mir nicht sicher, ob ich richtig verstanden hatte, und der Moment war schnell vorüber, denn Stefan kam fast im selben Augenblick und fiel seufzend auf mich. Lange lagen wir so da, bis ich ihn abwälzte, weil er mir zu schwer wurde.
Ich ging ins Badezimmer. Als ich zurückkam, schien er schon zu schlafen. Ich legte mich zu ihm ins Bett, und er murmelte, wie im Traum: »Hure, du Hure …«, legte seinen Kopf an meine Schulter, seinen Arm um meine Taille und seinen Oberschenkel über meine Beine. Auch diesmal war ich mir ungewiss, ob ich recht gehört hatte.
Am Morgen weckte mich das Geräusch des Regens. Ich öffnete die Augen und sah, wie die Tropfen auf das Fenster in der Dachschräge trafen und daran herabliefen. Wieder war Stefan vor mir aufgestanden, ich konnte hören, wie er sich unten in der Küche zu schaffen machte. Rasch schlüpfte ich in Reginas weinroten Hausmantel, ging die Treppe hinab und betrat die Stube. Kaffeegeruch durchzog das Haus. Der Tisch war mit Besteck, Tassen und Tellern aus dicker grünweißer Keramik und mit Servietten aus Leinen für das Frühstück gedeckt. Ich ging zu dem Stutzflügel, der eine Ecke des großen Raumes ausfüllte.
Über den Tasten war ein kleines Schild mit der Aufschrift Gebrüder Stingl angebracht. Ich griff nach dem Notenheft auf dem Ständer. Hugo Wolf, »Sechs Lieder für Frauenstimmen«. Ich blätterte darin. »Die Spinnerin«.
O süße Mutter / Ich kann nicht spinnen / Ich kann nicht sitzen / Im Stüblein innen / Im engen Haus / Es stockt das Rädchen / Es reißt
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