Die Unzertrennlichen
das ich gefunden hatte, verstand ich nicht. Regina sollte einen Geliebten gehabt haben? Das war unvorstellbar. Ich kannte die beiden nur als heiteres, verliebtes Paar, als zwei Menschen, die einander in Zuneigung und Loyalität verbunden gewesen waren, deren harmonische Ausstrahlung alle, mich eingeschlossen, stark angezogen und in deren Gegenwart sich jeder wohlgefühlt hatte.
In dieser Nacht erwachte eine Neugier.
Am folgenden Tag setzte ich mich nach der Arbeit an meinen Laptop und tippte das Wort Procida in die Suchmaschine ein. Google kam auf knapp über eine Million Ergebnisse, in der Hauptsache auf Deutsch, Italienisch, Englisch und Französisch. Isola di Procida. Von einer bezaubernden kleinen Insel war die Rede, die wie ein unentdeckter schwimmender Garten neben ihren großen Schwestern Ischia und Capri lag, vom betörenden Duft der Zitronen- und Orangenblüten, der sie einhüllte, von Regisseuren, deren Schönheit sie zu Filmen, von Schriftstellern, die sie zu Romanen inspiriert hatte. Ich klickte mehrere Websites an, betrachtete Fotos. Immagini di Procida. Aus der Vogelperspektive sah die Insel aus wie ein seine Fangarme nach allen Seiten ausstreckender Kraken. Kleine Häuser in Rosa, Weiß, Terrakotta, Dunkelrot und Hellblau mit flachen Dächern und Rundbögen; archaisch wirkende Kuppeln, vergitterte Fenster, halb offen stehende Türen, den Blick auf üppige Gärten freigebend; weiße und gelbe Kirchenfassaden an kleinen, mit abgeschliffenen schwarzen Steinen gepflasterten Plätzen; bunte Fischerboote, bunte Netze; eine riesige, ummauerte Abtei auf dem höchsten Punkt der Insel; Pinien, Palmen, Kaskaden von Bougainvillea und immer wieder Zitronen- und Orangenbäume; steile Abbrüche aus vulkanischem Gestein bis hinunter zu einem blauen, mit weißen Segelbooten getüpfelten Meer; verborgene Strände, Wege zwischen hohen Mauern; und überall Treppen.
Treppen. Eine Steintreppe auf einem Foto. Ich klickte darauf, vergrößerte es. Oberhalb der Stufen, die in ein Haus hineinführten, ein Torbogen, daneben ein violettes Fahrrad mit einem rosa Sattel. Zitronen, über eine Mauer hängend. Und die Zahl 14 in Weiß auf einem dunkelblauen Schild an der Hausmauer.
Ich beschloss, nach Procida zu reisen. Die Insel war offenbar sehr schön, und Süditalien gehörte zu meinen Lieblingsgegenden. Ich beherrschte die Sprache gut und hatte Lust, sie wieder einmal im Land selbst zu sprechen. Dazu liebte ich die italienische Küche. Außerdem hatte ich in den Monaten zuvor viel gearbeitet und sehnte mich nach ein paar Tagen Ferien, nach einem Ortswechsel, nach Sonne und Wärme.
In Wahrheit war natürlich keiner dieser Gründe ausschlaggebend für meinen Entschluss. Ich handelte aus einem Impuls, einer Intuition heraus. Es ging mir einzig und allein um den Traum, um das Foto. Um die Zahl 14. Es ging um Regina.
Da ich schon lange keinen Urlaub mehr genommen hatte, wurde mein Ansuchen umgehend und anstandslos bewilligt. Auch war es kein Problem, zu dieser Jahreszeit ein Zimmer mit Frühstück und Blick auf den Golf von Neapel in der Pensione Paradiso zu buchen. Ich hatte nicht vor, Stefan von meinem Vorhaben zu erzählen, da ich sicher war, dass er es missbilligen würde. Also rief ich ihn an und sagte ihm, man habe mich eingeladen, auf einer internationalen Konferenz einen Vortrag über forensische Toxikologie zu halten.
»Wo?«, fragte er.
Ich hatte mir keinen Ort überlegt. Auf meinem Tisch lag aufgeschlagen die Zeitung. Mein Blick fiel auf einen Artikel über den finnischen Architekten Alvar Aalto.
»Helsinki«, sagte ich.
»Helsinki! Da ist es jetzt doch schon eiskalt! Und die Tage sind so kurz. Wann fliegst du?«
Unwillkürlich lächelte ich. Für das blitzartige Erfinden von Unwahrheiten zeigte ich eindeutig Begabung.
»Kommenden Montag.«
»So bald schon? Weshalb hast du mir das nicht früher gesagt?«
»Die Finanzierung der Reise und des Aufenthalts war lange unsicher, ich habe erst heute die offizielle Genehmigung erhalten.« Spontan lügen machte Spaß. »Es ist eine große, renommierte Konferenz über Rechtsmedizin, ich treffe dort auch einige Kollegen aus dem Ausland, mit denen ich bisher nur telefoniert und E-Mails ausgetauscht habe. Wahrscheinlich werde ich sehr beschäftigt sein. Sei mir also bitte nicht böse, wenn du eine Woche lang nichts von mir hörst.«
Stefan seufzte. »Du wirst mir fehlen, Prinzessin.«
»Du mir auch.«
Ich nahm den Zug nach Rom mit Kurswagen nach Neapel, ein
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