Die Unzertrennlichen
ausschließlich von Stefan erwähnt, aber auch in diesem Punkt unterdrückte ich meinen Unmut, zeigte mich aufmerksam und unterbrach ihn nicht.
Etwa einen Monat nach dem Weinlesefest fand ich einen Brief – genauer gesagt, die obere Hälfte eines Blattes aus cremefarbenem Büttenpapier. Die untere fehlte, sie war abgerissen worden. Während Stefan an einem nebligen Samstagmorgen damit beschäftigt war, die vielen roten Äpfel von dem kleinen, fast schon unbelaubten Apfelbaum hinter dem Haus zu pflücken, stieß ich auf der Suche nach Lektüre auf ein Buch, ein zerlesenes, staubiges, vergilbtes altes Taschenbuch hoch oben in einem seiner Bücherregale. Ein Roman von Patricia Highsmith, einer Schriftstellerin, von der Regina fasziniert gewesen war. Ich stand auf einer Leiter, und als ich das Buch in die Hand nahm und aufschlug, glitt das halbe Blatt aus den Seiten und fiel zu Boden. Ich stieg die Sprossen hinunter und hob es auf. Die Handschrift war klein und stark nach rechts geneigt, die Abstände zwischen den Wörtern auffallend weit. Der Brief war mit Tinte geschrieben.
Zürich, im Dezember 2000 , stand in der rechten oberen Ecke. Ich las weiter.
Regina, meine Königin, mein Engel.
Hatte Stefan ihr den Brief von einer Tagung im Ausland geschrieben? Nein, ich kannte seine Schrift, das war sie nicht.
Zürich ist kalt und abweisend. Du fehlst mir. Immerhin sind die Konzerte in der Tonhalle ausverkauft. Teresa ist musikalisch nicht ganz auf der Höhe, sie sorgt sich um Leo, was verständlich ist. Du weißt ja, wie sensibel sie auf jede Störung reagiert. Jakob spielt wie ein Gott, er liebt die Métamorphoses nocturnes.
Ich hörte ein Klopfen. Stefan stand hinter dem geschlossenen Fenster und zeigte stolz auf den großen Korb voller Äpfel, der an seinem Arm hing. Ich beeilte mich, weiterzulesen. Die Schrift war nicht einfach zu entziffern.
Wie geht es Dir, meine Göttin? Wenn ich im Schneeregen durch die Altstadt spaziere, stelle ich mir vor, dass Du mir entgegentrittst, aus der Tiefe einer Gasse, aus dem Schatten eines Haustores. Der Gedanke, dass Du in wenigen Tagen mit Stefan auf dem Land Weihnachten feiern wirst, macht mich traurig und wütend. Ich hasse diesen –
Hier war das Schreiben zu Ende. Ich faltete das halbe Blatt rasch zweimal zusammen. Stefan trat ins Zimmer. Sein Blick fiel in dem Moment auf mich, als ich es in die Tasche meiner Jeans steckte.
»Ich hab fast alle Äpfel geerntet«, sagte er, nahm einen aus dem Korb und bot ihn mir an. »Ganz schön viel Arbeit. Hier sind die schönsten. Nimm.«
»Jetzt nicht«, sagte ich. »Ich koste später einen.«
Er warf einen Blick auf das Buch in meiner Hand.
»Was hast du dir da ausgesucht?«, fragte er. »Ach, Patricia Highsmith. Eine gute Wahl.« Er blickte genauer hin. »›Der süße Wahn‹.Ein großartiger Roman über die Eifersucht.«
Er schaute mir direkt ins Gesicht. Dann biss er in den für mich bestimmten Apfel.
»Süß, die Äpfel …«, sagte er. »Diese alten Sorten sind unübertroffen.«
Ein paar Tage später hatte ich einen Traum.
Ich sah die Vorderfront eines Hauses. Ein altes Gebäude. Der Putz war abgeblättert, unter dem neueren, weißen waren alte Farbschichten erkennbar, ockerfarben und türkis. Eine Steintreppe, überwölbt von einem Torbogen, führte steil hinauf und hinein in das Haus. Rechts neben der Treppe war ein kleines Schild angebracht, in Weiß auf dunkelblauem Grund, offenbar eine Hausnummer, die Nummer 14. Darunter lehnte ein violettes Fahrrad mit einem rosa Sattel an der schmutzigen Wand. Über eine Mauer links vom Torbogen hingen Zweige, schwer von großen Zitronen. Eine mediterrane Landschaft. Plötzlich stand eine Frau auf der Treppe. Regina. Ich kannte das Kleid, das sie trug, ein enges schwarzes Kleid mit rechteckigem Ausschnitt, das sie zu besonderen Gelegenheiten angehabt hatte. Sie blickte ernst, hob langsam die rechte Hand und winkte mir. Dann drehte sie sich um und ging die Treppe weiter hinauf, bis ihre Gestalt verblasste und verschwand.
Ich wachte auf, agitiert, da die Traumszenerie und Regina selbst einen so lebendigen, wirklichkeitsnahen Eindruck gemacht hatten, und lag lange wach. Mir war unbegreiflich, wie Stefan sich mit der Ungewissheit zufriedengeben konnte, die über Reginas Verschwinden lag, mit der wenig zufriedenstellenden Bilanz der Ermittlungen der italienischen Polizei. Wie konnte er leben, ohne weiter nachzuforschen? Bis er Gewissheit hatte.
Auch die Bedeutung des Brieffragments,
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