Die Unzertrennlichen
Trost hat sie schließlich den Sohn. Er ist achtzehn, ein unglaublich gutaussehender Kerl. Und sportlich! Spielt beim SSC Napoli. Ehrenwort. In der Jugendmannschaft. A-Junioren. Ich sage Ihnen, wenn ich nicht schon mit dem Vater – Sie wissen, was ich meine. Und was denken Sie, wie der heißt? Der Sohn? Sie glauben es nicht. Enea. Das heißt Äneas. Äneas!«
Erneut ein Wiehern. Dann rückte ihr Kopf abermals bis auf wenige Zentimeter an mein Ohr heran. »Und die Schuhe«, flüsterte sie, »also, die Schuhe, das ist feinste italienische Markenware, Ferragamo, Pollini, Brunate, Alberto Gozzi, Forzieri –«
»Ich würde jetzt gern –«
»Selbstverständlich schenkt er sie mir. Ercole. Aber wissen Sie was?«
Sie sah mich erwartungsvoll an.
»Was?«, fragte ich, um ihr einen Gefallen zu tun.
»Es sind Imitationen. Produktpiraterie! Täuschend echt. Sehen Sie sich meine Stiefel an.« Wieder streckte sie ein strammes Bein in die Höhe, diesmal das andere. »Sergio Rossi. Kein Mensch kann sie vom Original unterscheiden. Die Camorra hat die Hand im Spiel, wer sonst? Die Clans beherrschen so gut wie alles. Regieren über ganz Kampanien. Ich weiß es von Ercole persönlich. Drogen, Waffen, illegale Müllentsorgung, Designermode, Zement.« Sie sah mich an. »Weshalb eigentlich Zement?«
»Ich glaube –«
Meine Antwort interessierte sie nicht.
»Wie auch immer. Er hat Kontakte zu ein, zwei Leuten. Nicht ungefährlich, kann ich Ihnen sagen.«
Sie dehnte und räkelte sich.
»Ach, Italien! Das pralle Leben!«, rief sie dann. »Passione! Pericolo!«
Die Liegewagenschaffnerin schob die Tür zur Seite und blickte beunruhigt ins Abteil. Sie war jung, hatte das blonde Haar unter der Uniformmütze zu einem Pferdeschwanz gebunden und sah müde aus.
»Was ist hier los?«
»Was soll denn los sein?«, sagte meine Mitreisende gereizt. »Man plaudert ein bisschen. Man unterhält sich.«
»Außerdem ist Rauchen im Abteil verboten.«
»Haben Sie nichts Besseres zu tun, als zu spionieren? Machen Sie wenigstens die Betten, wenn Sie schon hier sind.«
Ich tat die ganze Nacht kein Auge zu. Die redselige Wienerin redete auch im Schlaf. Sie murmelte, raunte, klagte, jammerte, seufzte, stöhnte, schnatterte, brabbelte, nuschelte, schrie. Ich verstand kein Wort.
Am Morgen wirkte sie erschöpft und mürrisch und sagte nichts. Keine Silbe. Am Hauptbahnhof in Neapel trennten wir uns stumm.
Ich nahm die Straßenbahn zum Hafen. Vor mir stieg ein sehr großer, magerer Mann mit schmächtigen Schultern in einem abgeschabten hellbraunen Ledermantel ein und versuchte einen gleichermaßen hellbraunen und abgeschabten Lederkoffer mit vielen Aufklebern über die Stufen ins Wageninnere zu befördern, was ihm Mühe machte, da er zudem einen riesigen schwarzen Rucksack umgeschnallt hatte. Er kippte nach hinten, und ich streckte automatisch die Arme aus, um zu verhindern, dass der offensichtlich schwere Rucksack auf mich traf. Von meinen Armen aufgehalten und angestoßen, nahm der Mann einen zweiten Anlauf. Diesmal schaffte er es. Er wandte sich um und lächelte freundlich. Ein langes Gesicht, ein breiter Mund, schmale Augen. Blau? Grau? Grün? Hell jedenfalls.
»Danke, Fräulein«, sagte er auf Italienisch, »tausend Dank.« Eine überraschend tiefe, heisere Stimme.
»Nichts zu danken. Was ist denn in dem Rucksack? Steine?«
Er lachte. Eine Art Grollen, Husten, Krächzen. Ein starker Raucher?
»Nein, Bücher.«
Jedenfalls stieg der Typ auch am Hafen aus. Die Fähre, die nach Procida und weiter nach Ischia fuhr, hatte noch nicht angelegt, und ich setzte mich an ein Tischchen vor einem eher schäbig aussehenden Café und bestellte bei einem missmutigen alten Kellner mit langen, strähnigen grauen Haaren in einer unbeschreiblich schmutzigen weißen Kellnerjacke einen Espresso und ein Cornetto. Bis auf zwei abgekämpft aussehende, schweigende Männer in blauer Arbeitsmontur, die einander am Nebentisch gegenübersaßen, war ich der einzige Gast. Während ich meinen Espresso trank, schaute ich mich nach dem Mann aus der Straßenbahn um, aber er war nirgendwo zu sehen. Ich fragte mich, was für Bücher es waren, die er in seinem Rucksack trug. Ein kalter Wind wehte, das Meer war aufgewühlt und grau, der Himmel hatte dieselbe Farbe. Ich zog meine Jacke über der Brust zusammen und verschränkte die Arme. Hinter mir, nur durch die Fahrbahn vom Wasser getrennt, erhob sich ein eindrucksvolles Bauwerk, eine alte Burg. Das musste das Castel Nuovo sein.
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