Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
der Limbuskinder. Offenbart hatte Lycidas ihnen, dass er mithilfe der Spiegelscherbenaugen zu sehen in der Lage gewesen war. Was immer die Kinder mit den Spiegelscherbenaugen sahen, erblickte auch er. Als sie unten in der Hölle gewesen waren, hatte er die ganze Zeit über gewusst, dass ihnen ein Alchemist und ein Elf auf den Fersen waren. Von der Armee der Ratten und Arachniden hatte er erfahren, noch bevor diese Pairidaezas Kathedrale erreicht hatten. In keinem Moment war er auch nur annähernd überrascht gewesen. Alles verlief so, wie er es wollte. Die Kinder des Limbus hatten, so seine Darstellung, nur darauf gewartet, endlich losschlagen zu können.
»Die Hölle«, hatte er gesagt, »ist mein Refugium. Wer ungebeten dort hinabsteigt, muss die Konsequenzen tragen.«
Dessen eingedenk hatte er ihnen allen versichert, dass die Limbuskinder nicht an die Oberfläche gelangen würden. »Dies hier ist ihr Lebensraum«, hatte er Emily und Aurora zu beruhigen versucht. »Es verlangt sie nicht im Mindesten danach, hinauf nach London zu steigen, um von dort aus über die ganze Welt auszuschwärmen.«
So freundlich und hilfsbereit, dass er sie in diesen Augenblicken wieder an Lucia del Fuego erinnerte, hatte er ihnen den Weg hinauf nach London gewiesen.
Was führte der Lichtlord im Schilde?
Emily kam nicht dahinter.
Master Lycidas – oder besser: Lucia del Fuego – sorgte sich um Emilys und Maras Mutter. Ihm war sehr am Wohle Manderley Manors gelegen. Weniger hingegen schienen ihn die Belange des Hauses aus Blackheath zu interessieren. Was also verband ihn nur mit Manderley Manor?
Müde rieb sich Emily die Augen.
Ihre kleine Schwester war mittlerweile eingeschlafen.
Ganz sanft und entspannt sah sie aus.
Wie fühlte man sich wohl als Mutter, wenn einem das Kind geraubt wurde? Und wie erst musste man sich fühlen, wenn man ein Kind einfach so weggeben musste? Emily versuchte, sich dies alles vorzustellen. Sie brannte förmlich darauf, endlich ihrer Mutter gegenüberstehen zu können. Dabei wollte sie ja nicht einmal mit ihr sprechen; nein, allein sie zu sehen wäre ihr schon genug.
Während sie so träumte, bestürmten sie fremde Bilder. Anders als bei den vorherigen Visionen verspürte sie dieses Mal jedoch keine Schmerzen. Fragmente waren es, Schnappschüsse aus den Erinnerungen und Emotionen der kleinen Mara, die Emily mühelos sehen konnte. Sie fühlte, was ihre Schwester gefühlt hatte, als sie als hungriges Baby auf ihr Essen hatte warten müssen; spürte die Angst vor den großen Gardinen im Schlafsaal eines fremden Waisenhauses; weinte, weil die Wärme der Mutter fehlte und die Geborgenheit durch den Vater; gluckste beim Anblick einer Frau mit strengem Gesicht, die Emily schon einmal gesehen hatte. In einer früheren Vision. Viele der Gefühle kannte Emily. Vieles davon hatte sie am eigenen Leib erfahren. Überraschenderweise fiel es ihr nicht schwer, die blitzlichtigen Momentaufnahmen aus ihrem eigenen Leben auf die kleine Mara zu übertragen. Wenngleich das Mädchen schlief und seine Augenlider kaum merklich zuckten, so wusste Emily doch, dass die Vorstellungen dort ankamen, hinter den blauen Augen, und dem kleinen Mädchen ein Bild ihrer großen Schwester schenkten.
»Es dauerte nur Augenblicke«, gestand mir Emily später, »und wir hatten einander kennen gelernt. Es war, als seien wir niemals voneinander getrennt gewesen. Sie fühlte, was ich damals gefühlt hatte. Genauso wie ich selbst ihre geheimsten Gedanken mitgeteilt bekam.«
»Sie sind eine Trickster«, bemerkte ich.
»Wird es auch mit meiner Mutter funktionieren?«
»Nein.«
Emily wollte das nicht glauben. »Warum?«
»Fragen Sie nicht!«
»Oh, bitte!«
»Ihre Mutter ist kein Wechselbalg und keine Trickster.«
Ich hielt inne.
Als die Worte ausgesprochen waren, wurde mir erst ihre Bedeutung bewusst.
Emily starrte mich an, als errate sie meine Gedanken.
»Mara doch auch nicht«, sagte sie.
Wir standen mitten im Regent’s Park, keine fünf Minuten von unserem Ziel entfernt. Dicke Schneeflocken wirbelten durch die Luft. Ein eisiger Wind blies den Passanten die Schirme zur Seite.
Beide starrten wir auf das Kind, das in dicke Wolldecken eingewickelt friedlich im Wagen schlief.
Schnell zog ich ihre Mütze zur Seite. Untersuchte die Ohren.
Spitz waren sie.
Doch nicht spitz genug.
Und dann die Augen!
Ich schalt mich selbst, ein nachlässiger Idiot gewesen zu sein. Warum hatte ich es nicht schon früher bemerkt? Maras Augen waren
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