Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
ihr gesagt.
Little Neil Trent war von Mr. Edward Dickens adoptiert worden. Und Mr. Dickens kannte die uralte Metropole. Der alte Mann liebte es, des Nachts durch die Straßen und Gassen des Viertels zu ziehen, und auf einer dieser nächtlichen Wanderungen, die er stets auch unternahm, um seine Gedanken zu klären, war er über ein zusammengeschnürtes Bündel gestolpert, das unter einer Laterne in der Fleet Street gelegen hatte. Ein jämmerliches Heulen war dem Bündel entstiegen, und als Mr. Dickens die dicke Kordel entknotet und das grobe Leinen entwirrt hatte, da blickte er in die strahlend blauen Augen eines Kindes, das kaum zwei Jahre alt sein mochte. Der Junge mit dem Blondschopf hörte augenblicklich zu weinen auf, als er in das Gesicht des alten Mannes blickte, der Pfeife rauchend über ihm kniete und beruhigend auf ihn einzureden begann.
»Das ist überhaupt das Erste«, hatte Little Neil gestanden, »woran ich mich erinnere. Die Pfeife und der Geruch des Tabaks. Süßlich und dennoch schwer hat er gerochen.«
»Du bist also auch ein Waisenkind«, war es aus Emily herausgesprudelt.
»Ja, kann man so sagen.«
Immer öfter war Emily in dem Raritätenladen aufgetaucht, um sich mit dem Jungen auszutauschen. Little Neil Trent liebte alte Bücher. »Ganz besonders richtig dicke Bücher«, gestand er ihr.
»Charles Dickens?«
»Wie könnte ich ihn nicht mögen?«
Auch wieder wahr, dachte sich Emily.
Sie erzählte Neil von ihren einsamen Stunden in Rotherhithe und dem Trost, den sie zwischen den Seiten der fetten Wälzer fand. »Im Waisenhaus hatten wir nur zerfledderte Taschenbuchausgaben mit billigen Titelbildern. Doch auch mit denen konnte man träumen und in ferne Länder reisen.« Emily Laing genoss die Stunden, die sie im Raritätenladen verbringen konnte, weil sie in Neil einen Gleichgesinnten gefunden hatte, der ebenso in Bücher und Geschichten vernarrt war wie sie selbst. Und außerdem mochte sie die unbeholfene Art, wenn der Junge um sie herumschlich und ihr linkisch, aber fürsorglich Tee oder heiße Schokolade anbot. Kurzum: Emily Laing fühlte sich geborgen in der Gegenwart Little Neil Trents.
Und allem Anschein nach beruhte dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit.
»Mein Vater war im Überseehandel tätig. Er kaufte Gewürze von den Pächtern der Pfeffergärten in Indien, und später dann wollte er in der Karibik Fuß fassen. Das war ein Fehler. Sein gesamtes Vermögen hat er verloren. Mr. Dickens hat einige Nachforschungen angestellt, um herauszufinden, wer meine Eltern waren.« Emily ahnte, dass die Geschichte kein gutes Ende haben würde. »Meine Eltern haben sich beide das Leben genommen. Aus Scham, weil die Firma meines Vaters dem Konkursverwalter übergeben worden war, und aus Verzweiflung, weil sie keine Zukunft mehr sahen. Mich haben sie in der Fleet Street ausgesetzt.« Die sonst so strahlend blauen Augen des Jungen wirkten jetzt stumpf und leer. »Sie hofften wohl, dass mich dort schnell jemand finden würde.«
Emily schwieg.
»Warum tun Eltern so etwas?« Eigentlich hatte Neil die Frage nicht an Emily gerichtet.
»Ich weiß es nicht.« Erwachsene tun manchmal Dinge, die für Kinder nicht immer klar sind.
»Warum haben deine Eltern dich ins Waisenhaus gegeben?«
Eigentlich hatte Emily nicht darüber reden wollen, aber dann tat sie es doch. »Mein Vater war ein Künstler aus Lancashire. Der meine Mutter liebte. Weißt du, es hilft, wenn ich mir vorstelle, dass es eine große, romantische Liebe gewesen ist. Irgendwie ergibt es dann Sinn, dass ich geboren wurde.«
Neil beobachtete sie. Das blonde Haar fiel ihm in sanften Wellen um die Schultern.
»Sie durften einander nicht heiraten, und aus irgendeinem Grund wollte die Verwandtschaft auch nicht, dass irgendjemand von mir erfuhr. Also gaben sie mich fort, und so landete ich im Waisenhaus des Reverends.« Emily hielt es für keine gute Idee, den Namen ihrer Familie zu erwähnen. Stattdessen fragte sie: »Wie ist es Mr. Dickens gelungen, deine Eltern ausfindig zu machen?«
»Er hat Detektiv gespielt. Der alte Edward liest in seiner Freizeit Conan Doyle, als gebe es nichts anderes. Tag um Tag, Jahr um Jahr. Er beginnt mit der
Studie in Scharlachrot
, frisst sich förmlich durch die Kurzgeschichten und endet bei
Im Zeichen der Vier
. Und ganz wie sein Vorbild gebrauchte er den Verstand. Die Logik, beliebte er zu sagen, ist der beste Freund des Mannes.«
Draußen heulte der Wind ums Haus.
»Jedenfalls«, fuhr Neil fort, »untersuchte
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