Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
seinen Nachwuchs verliert, stirbt langsam, aber sicher aus. Eine Metropole, die Kinder verliert, gebiert neue Kinder. Das ist der Lauf der Dinge.«
Ich dachte darüber nach, was sie gesagt hatte.
Über die Ortschaften in diesen Geschichten.
Die Oase in der Libyschen Wüste, das brennende Rom, das aufstrebende Londinium unter Kaiser Claudius, im Mittelalter St. Cérilly und Hameln, dann das London unter Charles II. Der Weg führte aus dem Zweistromland nordwärts, mit gelegentlichen Abstechern auf den Kontinent, und endete in Londinium beziehungsweise der uralten Metropole, die London werden sollte.
»Wo liegt die Gemeinsamkeit?«, fragte ich geradeheraus.
»Die Lösung all jener Plagen«, antwortete Miss Monflathers, »ist die Gemeinsamkeit.«
Und aus des Engels Mund erklang es: »Der Rattenfänger.«
»Ihr sagt es«, stimmte Miss Monflathers dem Engel zu. »Die Person des Rattenfängers wird in allen Sagen als hübscher Jüngling oder bleiche Frau beschrieben. Die Orientalen unterscheiden in ihren Schriften kaum danach, ob es nun eine hübsche Frau mit jungenhaften Zügen oder ein Jüngling mit weiblicher Ausstrahlung gewesen ist.« Sie blieb stehen und sah uns ernst an. »Ich bin sicher, dass wir es in allen Fällen mit der Lichtlady zu tun haben.«
»Sie meinen, dass Mylady Lilith in allen Zeiten nach Kindern gesucht hat, um den Lebensbaum zu nähren?«
»Du sagst es, Mortimer.«
»Warum aber das Auftreten als Rattenfänger?«, wollte Rahel wissen.
»Wir wissen nicht, ob es sich tatsächlich so zugetragen hat«, antwortete sie. »Alles, was uns diese Geschichten sagen, ist, dass es sich so zugetragen haben könnte. Es kann sein, dass im Zuge ihres Auftretens auch Ratten in den Dörfern aufgetaucht sind. Ebenso gut kann es sein, dass die Ratten oder die Skorpione oder welche Plage auch immer eine dichterische Freiheit sind. Zu allen Zeiten sind die Menschen jedenfalls mit einem unerklärbaren Phänomen konfrontiert worden.«
»Jemand hat ihre Kinder geraubt.«
»Und wie es der Menschen Natur ist, haben sie nach einer Erklärung gesucht. Zudem bleibt zu berücksichtigen, dass diese Geschichten über Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende hinweg nur mündlich überliefert worden sind. Jeder Erzähler hat seiner Geschichte einige neue Zutaten beigemischt, und am Ende hat es dann endlich jemand aufgeschrieben.«
»Aber die Gemeinsamkeit …«
»Ist die Person des namenlosen Fremden, der überaus hübsch anzusehen ist. Und dies ist das Element«, merkte sie an, »das sich in allen Varianten der Geschichte findet. Der androgyne Fremde ohne Namen ist der eine gemeinsame Nenner. Das andere sind die Ratten, die in der Mehrzahl der Geschichten auftreten. Und nicht zuletzt bleibt da noch die Ungerechtigkeit, die man dem Fremden hat widerfahren lassen.«
»Eine moralische Komponente?«
»Ja, aber rein dramaturgisch.«
»Wie meinen Sie das?«
Geduldig erklärte sie es mir: »Der Geschichtenerzähler, wer auch immer dies gewesen sein mag, berichtet von einer Plage, die durch eine Fügung des Schicksals beseitigt wird. Doch die Dorfbewohner verweigern dem hilfreichen Fremden in allen Varianten der Geschichte den gerechten Lohn, woraufhin dieser die Kinder mit sich nimmt, was gleichbedeutend ist mit der Zukunft der Menschen. Das Verschwinden der Kinder ist also immer die Folge unmoralischen Verhaltens. Hätte man sich moralisch verhalten und dem Fremden seinen Lohn gegeben, dann hätte dieser die Kinder nicht in den Tod geführt.«
»Man gibt den Zuhörern die Sicherheit, dass sie selbst vor einem solchen Schicksal gefeit sind, wenn sie sich allzeit gerecht verhalten.«
»Das ist die Dramaturgie dieser Geschichten. Wir können nicht sagen, ob es wirklich Lilith gewesen ist, die die Dörfer und die alten Metropolen heimgesucht hat. Wir können auch nicht sagen, dass sie es nicht gewesen ist. Aber klingt es nicht allzu wahrscheinlich? Dass sie es gewesen ist? In allen Kulturen des Morgenlandes wird sie als Kinderdiebin dargestellt, wenngleich sich die Erscheinungsformen, in denen sie dies tut, natürlich unterscheiden.«
Miss Monflathers war zweifelsohne in ihrem Element. Bereits vor Jahrzehnten, als sie noch in Salem House unterrichtet hatte, war diese Leidenschaft deutlich zutage getreten. Sie liebte es, sich maulwurfgleich durch alte Schriften zu wühlen und dann ihre Schlussfolgerungen zu ziehen, die, wie in diesem Fall, zwar häufig etwas an den Haaren herbeigezogen wirkten, sich in der Vergangenheit
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