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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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in den Wänden scharren, unter den Holzböden und in den Kornspeichern. Sie fraßen alles, dessen sie habhaft werden konnten. Gift wurde ausgelegt, doch die Ratten fraßen auch das Gift. Katzen wurden aus den Nachbardörfern herbeigeschafft, doch die Ratten fielen in Rudeln über die Katzen her und töteten sie. Verzweiflung packte die Einwohner.«
    Die Lösung des Problems schien auf der Hand zu liegen: »Dann nahte die Rettung in Gestalt eines Rattenfängers.«
    »Du sagst es, Mortimer.«
    »Wieder ein hübscher Fremder ohne Namen?«
    »Sogar mit einer hölzernen Flöte und einem Preis, den die Einwohner natürlich zu zahlen bereit waren. Er spielte seine Melodie, und die Ratten folgten ihm bis zum nahe gelegenen Fluss, wo sie allesamt in die Fluten stürzten und kläglich ersoffen.«
    »Die Dorfbewohner jedoch weigerten sich, den Preis zu zahlen.«
    »Es war ein armes Dorf«, stellte Miss Monflathers nicht ohne einen süffisanten Zug um die Lippen klar, »und so kam es, dass der Rattenfänger erneut spielte. Als man in St. Cérilly aus dem tiefen Schlaf erwachte, waren alle Kinder verschwunden. Nur ein einziger Junge, der lahmte, war zurückgeblieben und konnte von dem nächtlichen Zug der Kinder berichten. Keines von ihnen wurde jemals wieder gesehen. Der Junge berichtete, der Rattenfänger, der im fahlen Mondlicht wie eine schöne Frau ausgesehen habe, habe die Kinder hinunter zum Fluss geführt.«
    »Eine schöne Geschichte, doch was hat sie mit London und der uralten Metropole zu tun?« Maurice Micklewhite duckte sich, während er den Tunnel entlangging.
    »Der Sagen gibt es viele«, stellte Miss Monflathers fest, »doch müssen wir uns fragen, was all diese Geschichten gemeinsam haben. Da gab es ein Städtchen im Braunschweiger Land nahe Hannover, genannt Hameln. Robert Browning hat ein Gedicht darüber verfasst, wie die Menschen dort von den Ratten befreit wurden und dafür mit dem Leben ihrer Kinder bezahlen mussten. Eine ähnliche Geschichte. Wieder ein Rattenfänger aus der Fremde, der, weil er ungerecht behandelt wurde, die Kinder entführt. Sogar die Ewige Stadt litt einst unter einer Rattenplage. Man sagt, Kaiser Nero habe einen hübschen Jüngling aus dem Orient damit beauftragt, Rom zu reinigen. Und weil der selbst ernannte gottgleiche Kaiser keine Befehle von Sterblichen entgegennahm, wurde auch diesem Rattenfänger die Belohnung vorenthalten. Auch dieser Rattenfänger nahm die Kinder der Stadt mit sich.«
    »Der Ruhm, dem Kaiser zu dienen, war ihm kein ausreichender Lohn?«
    Maurice Micklewhite und seine Scherze!
    »Angeblich ersoffen sie alle im Tiber.«
    »Eine weitere Geschichte also«, stellte ich fest.
    Fasziniert folgte der Engel Rahel unseren Ausführungen. Dies jedoch schweigend.
    »In den meisten Büchern wird nicht von dem Kinderraub und der Rattenplage berichtet, weil Rom kurze Zeit später ohnehin lichterloh brannte. Den Verlust all der Kinder schrieb man den Flammen zu.« Miss Monflathers machte eine lange Pause. »Was wir gehört haben«, fasste sie zusammen, »war im Grunde genommen immer die gleiche Geschichte.«
    »Was«, schaltete sich Maurice Micklewhite ein, »erneut die Frage aufwirft, die ich mich vorhin zu stellen erdreistet habe. Was in aller Welt haben all diese Geschichten mit den Geschehnissen in London zu tun?«
    »Ach, das siehst du nicht?« Amüsiert zwinkerte sie mir zu. »Mortimer?«
    Mir blieb nichts anderes übrig, als zu raten. »Die Kinder mit den Spiegelscherbenaugen stammen nicht nur aus London?«
    Miss Monflathers klatschte in die Hände.
    »Ha, genau das war mein Gedanke.«
    Maurice Micklewhite starrte sie ungläubig an. »Ist das Ihr Ernst?«
    Rahel schwieg.
    Ich fragte: »Sie meinen, dass der mysteriöse Rattenfänger immer ein und dieselbe Person gewesen ist?«
    »Ja, Mortimer, genau das meine ich.«
    Konnte das wirklich sein?
    »Früher«, erklärte sie mit ruhiger Stimme, »als es noch keine Metropolen gab, fiel es natürlich jedem auf, wenn Kinder verschwanden. Die Existenz der Menschen war bedroht. Doch ist nicht alle Sichtweise relativ, wie man so schön sagt? Verschwinden zweihundert Kinder in einem Fünfhundert-Seelen-Dorf, dann kommt dies für die dörfliche Gemeinschaft einer Katastrophe gleich. Die Existenz des gesamten Dorfes wird bedroht, wenn der Nachwuchs verschwindet. Kommen aber dreihundert Kinder in Metropolen wie London oder Rom abhanden, so ist dies beunruhigend, aber keinesfalls vergleichbar mit dem Fall des Dorfes. Ein Dorf, welches

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