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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Grausamkeit den Erwachsenen ebenbürtig.« Ich sah die beiden Mädchen bedauernd an. »Es dauerte einige Zeit, bis ich mir meiner Fähigkeiten bewusst wurde.«
    Der Wind, der in unsere Gesichter blies, wurde stärker. Wir näherten uns einer Abzweigung, wo der Abwasserkanal in den nächsten mündete. Dinsdale das Irrlicht schwebte tanzend vor uns her.
    »Schließlich sprach auch mich eine Ratte an«, gab ich zu. »Mylady Hampstead.«
    »Träumen Sie manchmal von Ihren richtigen Eltern?«, wollte Aurora wissen.
    »Ich tat es einst. Doch Träume verschwinden mit der Zeit.«
    Emily hoffte, dass es auch in ihrem Fall so sein würde.
    »Sie sagten, dass Sie von Rotherhithe gehört hätten«, meinte Aurora.
    »Ich folgte Mylady Hampstead nach London, als ich zwölf Jahre alt war. Dort erzählten ängstliche Kinderstimmen vom Waisenhaus des Mr. Murdstone, von den Aufträgen, die er verteilte, der Arbeit in den Fabriken und den langen Schornsteinen. Es wurde viel erzählt in jenen Zeiten, und leider erwies sich das meiste davon im Nachhinein als wahr.«
    »Wann ist das gewesen?«, wollte Emily wissen.
    »Vor langer Zeit. Noch vor den Whitechapel-Aufständen.«
    Ich war froh, als mich Maurice Micklewhite dieses Gespräches entband, indem er uns allen zu schweigen gebot. Wir standen an einer Kreuzung, wo drei Abwasserkanäle in einen mündeten. Das Rauschen des Wassers hallte laut von den Wänden wider. Dinsdale verharrte bewegungslos unterhalb der Decke.
    »Was ist los?«, fragte ich im Flüsterton.
    Die beiden Mädchen drängten sich aneinander.
    Maurice Micklewhite deutete auf den Boden.
    Ein Büschel dunklen Fells klebte dort an einer Mauerkante.
    »Wölfe?«, wollte Aurora ängstlich wissen.
    Emily schaute sich schnell um. Immerhin hatte sie bereits eine Begegnung mit einem Wolf hinter sich. Sie wusste, wie unangenehm ein Lykanthrop werden kann.
    »Stehen und schweigen Sie still!«
    Maurice bückte sich, hob das Haarbüschel auf und roch daran. »Einen Tag alt, höchstens. Das Aroma ist noch kräftig.« Die stahlblauen Augen des Elfen suchten im Tunnel vor uns nach Spuren, die gespitzten Ohren tasteten nach Geräuschen. Doch da war nichts. Nur das Plätschern der Abwässer in der Dunkelheit. Nur der Gestank nach alten Fäkalien. »Immerhin, wir folgen der richtigen Fährte.«
    Tja!
    »Immerhin«, stimmte ich ihm zu.
    Maurice warf das Haarbüschel achtlos weg. Das dunkle Knäuel wurde von einem Lufthauch erfasst und nach hinten gewirbelt, wo es sanft die Hand der kleinen Emily berührte, die erschrocken zurückwich. Ihr entwich ein angeekeltes »Pfui«, und was danach geschah, überraschte uns alle.
    Der Körper des Mädchens verkrampfte sich, ihre Lippen begannen zu beben, und ihr gesundes Auge tränte. Die Anstrengung ließ Emily sich zusammenkrümmen, in die Hocke gehen, wo sie wimmernd verharrte.
    Schnell waren Aurora und ich zur Stelle, hielten ihren zitternden Körper fest, da sie sonst Gefahr gelaufen wäre, von dem schmalen Gehweg, der zu beiden Seiten der Unratflut verlief, in eben diese hineinzufallen.
    Hinter mir hörte ich die Stimme Maurice Micklewhites: »Die Wolfshaare.«
    Emily bäumte sich unter meinem Zugriff auf und fauchte laut.
    Ihr Atem wurde schneller, als die Vision von ihrem Bewusstsein Besitz ergriff. Sie spürte die Kraft von vier Beinen, die sie schnell durch die Tunnel laufen ließ. Roch warmes Fleisch. Rattenfleisch. Von Nagern, die sich hier und da versteckten.
    Emily war der Wolf. Sah durch die Augen eines großen Lykanthropen, der auf der Flucht war. Ihr Instinkt sagte ihr, dass die Gegner viel zu klein waren, als dass sie sich um sie sorgen müsste. Doch waren es ihrer so viele. Sie kamen aus den Ritzen in der Mauer, krabbelten über die Decke und die Wände. Überall waren sie. Ein Meer schwarzer Leiber. Sie ließen sich von der Decke fallen, waren in ihrem Fell, krochen in ihre spitzen Ohren. Bedeckten die Schnauze. Sie waren überall, und es kamen immer mehr. Winzige Stiche ließen sie erschaudern. Sie spürte Angst. Der Instinkt riet ihr, sich in die menschliche Gestalt zurückzutransformieren. Dafür jedoch durfte sie sich nicht der Panik hingeben. Doch fühlte sie Panik, konnte sie förmlich schmecken. Die Panik füllte ihr Bewusstsein aus. Es war die Panik des Jägers, der unverhofft selbst zur Beute wird. Der Wolf, der sie war, jaulte laut auf und verfluchte die Kumpane, die sich von dannen gemacht und ihn als lebendigen Köder zurückgelassen hatten. Es tat weh. Jeder Sprung

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