Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Erinnerung geblieben waren, an einem anderen. Uns den Rücken zuwendend kauerte eine hoch gewachsene Gestalt ganz in Schwarz allein an einem Tisch weiter hinten, in einem der Alkoven, von denen es viele gibt im Krypta-Café. Die Gestalt summte eine Melodie. Traurig und doch wunderschön. Hauchte leise Worte in einer fremden Sprache. Viel unheimlicher war jedoch, dass niemand der Anwesenden zu sprechen wagte. Als hätte die Melodie sie allesamt ergriffen. Als verstünden sie, worum es in dem Lied ging.
»Was ist das?«, entfuhr es Emily.
Laut fielen ihre Worte in die Stille.
Die Person drehte sich zu den Kindern um.
»Es ist Liliths Lied«, sagte Lycidas.
Die Unwiderruflichkeit, die in der tiefen Stimme mitschwang, erschreckte Emily zutiefst. Denn mit einem Mal erkannte sie den Verlust, von dem das Lied erzählte. Nur in Tönen, ja, doch so klar wie die Kristalle, zu denen Schneeflocken in der Sonne werden. Der Lichtlord beklagte den Verlust seiner Geliebten. Lilith. Madame Snowhitepink. Und obwohl sie sich dagegen sträubte, empfand Emily Mitleid mit jener Frau, die die Waisenkinder von Rotherhithe einst das Fürchten gelehrt hatte. Sie empfand Mitleid, weil die Melodie sie in ihrer Blindheit mitten ins Herz traf. Weil sie verstand, wovon Lycidas da sang.
Weil sie wusste, was Verlust war.
Und verstand, dass jeder in dieser Welt einen Preis zu zahlen hatte.
Kapitel 11
Palaver
Nur ein Erbe würde die beiden Häuser vereinen können,
hatte Mylady Hampstead uns erklärt. Damals.
Lycidas wusste das. Er trug einer Jägerin auf, Mara zu entführen. Sie sollte dem Kind das Herz aus dem Leib schneiden und es ihm als Beweis für ihre Tat vorlegen. Doch hatte die Jägerin Mitleid mit dem Kind und übergab es dem Waisenhaus in Holborn. Statt des Kindes tötete sie einen Stadtstreicher, der betrunken an den Stufen des Trafalgar Squares kauerte, und überbrachte ihrem Herrn dessen Herz. Lycidas verspeiste das Herz und glaubte die Angelegenheit damit bereinigt.
»Glaubten Sie etwa allen Ernstes, ich sei zu einer solchen Schandtat fähig? Ein noch schlagendes Herz als Beweis für diese Bluttat einzufordern?« Die dunklen Augen musterten uns alle. »Das sind doch alles nur Rattengeschichten.« Mundwinkel verzogen sich spöttisch.
»Sie wissen, was wirklich geschehen ist?«, fragte Miss Monflathers.
»Ist der König ein Engländer?«
»Dann berichten Sie uns davon«, schlug Maurice Micklewhite vor. »Die Zeit arbeitet nicht für uns.«
»Da stimme ich Ihnen zu.« Lycidas seufzte. »Ophar Nyx«, begann er, »und das sollten Sie alle wissen, ist eine uralte Kreatur. Ein Wesen, das dem Träumer nicht unähnlich ist, wenngleich es sich bei den beiden mitnichten um gleichartige Geschöpfe handelt. Ophar Nyx ist dem Träumer untertan.« Er korrigierte sich. »War dem Träumer untertan, bevor er in Ungnade fiel.«
»Wir wissen um den Nyx«, sagte Miss Monflathers.
Lycidas nahm den Einwurf zur Kenntnis. »Aber wissen Sie auch um der Ratten Absichten?«
»Die Ratten dienten einst den Black Friars«, sagte ich.
»Und sie tun dies immer noch. Manche unter ihnen jedenfalls«, verbesserte mich Lycidas. »Und wieder andere verfolgen eigene Ziele.«
Unschwer zu erkennen, auf wen er da anspielte.
»Lord Brewster.«
»Der Nyx ist einer Gottheit gleichgestellt, die der Erde gebietet und allem, was in ihr kreucht. Einige sagen, er habe die Ratten erschaffen. Andere meinen, er sei nur fähig gewesen, jene Kreaturen zu erschaffen, die in der uralten Metropole lapidar als Rattlinge bezeichnet werden. Doch sollten Sie wissen, dass die Ratten in der alten Zeit einen eigenen mächtigen Gott verehrten. Dieser Rattengott hauste in den Eingeweiden der Erde, und die Ratten beteten zu ihm, weil sie glaubten, dass er ihr Schöpfer sei.«
»Der Ophar Nyx.«
»Er, und Geschöpfe, die ihm ähnlich sind.«
Jede Metropole der Welt, so hieß es in den Geschichten, beherbergt ein Wesen wie den Nyx. Sitzend auf einem Thron aus Ratten, deren lange Schwänze zu einem Teppich verwoben sind.
Meine Güte!
Nagerphantasien!
»Was hat es mit den Rattlingen auf sich?«
»Die Rattlinge sind die Sinnesorgane des Nyx. Sie sehen für ihn. Sie hören für ihn. Sie erteilen in seinem Namen Befehle an jene, die ihm untertan sind. Lord Brewster gehört zu den Auserwählten des Nyx. Er ist anders als die anderen Ratten. Er ist alt. Vom Nyx mit einer dunklen Lebensenergie ausgestattet, die seinesgleichen normalerweise versagt bleibt.«
Emily lauschte den
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