Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
Ruck auf die Beine, der seine wahren Kräfte erahnen ließ. Emily hatte Dinsdale in die Jackentasche gesteckt, und als sie das Tunnelsystem betraten, stützte sie Aurora, so gut es ging. Tränen der Erschöpfung standen Emily in den Augen. Aurora, das spürte sie, würde es nicht schaffen, so unterkühlt wie sie war, das Ziel zu erreichen, wo auch immer das liegen mochte. Sie würde zusammenbrechen, und was die beiden Kreaturen dann mit ihr anstellen würden, wollte sich Emily gar nicht erst ausmalen.
    Nicht einmal sprechen konnte Aurora. Nur bibbern.
    Mr. Wolf hatte Emily die Hände gefesselt.
    Der raue Strick rieb ihr die Haut an den Handgelenken auf.
    Auroras Gelenke waren bereits wund gescheuert und bluteten.
    Weder Mr. Fox noch Mr. Wolf nahmen Rücksicht darauf. Unbarmherzig trieben sie die beiden Freundinnen durch die Tunnel, die nach oben führten, wo die Luft wärmer und schwüler wurde.
    »Jammern Sie nicht«, herrschte Mr. Fox die Mädchen an, »bald sind wir in Croxley.«
    Als wüssten die Kinder, was sie dort erwartete.
    »Von da an geht’s leichter«, ergänzte Mr. Wolf.
    Schon kurz darauf erreichten sie eine Gegend, wo die Wände goldgelb gekachelt waren. Es sah dort weniger wild aus als in der zerklüfteten Höhle, die sie vom Strand weggebracht hatte. Irgendwie schien es, als könne man die Eleganz längst vergangener Tage erahnen. Emily entsann sich einiger Geschichten, die Mrs. Philbrick im Waisenhaus erzählt hatte. Die Köchin hatte zu ausgiebigem Schwafeln geneigt und fortwährend Ersponnenes zum Besten gegeben. Eine dieser Geschichten, die sie Emily zwischen Kartoffelschalen und Wasserdampf erzählt hatte, handelte von dem Bau der, wie sie es genüsslich betont hatte, Royal Underground.
    »Damals, als sie anfingen, die Löcher zu graben, da hat man natürlich an das Königshaus gedacht.« So hatte sie meist begonnen und hinzugefügt: »Immer denkt man in diesem Land an das Königshaus. Das blaue Blut ist fast wie das unsrige, jaja, so ist das. Wir kümmern uns fürsorglich um unsere Könige. Sieht man von Charles I. und einigen anderen Pechvögeln ab.« Glaubte man Mrs. Philbrick, dann hatte man eine Linie erbaut, die nur von der königlichen Familie benutzt werden durfte. »Damit sie ebenso
schnell
reisen konnten wie das einfache Volk, aber nicht
mit
ihm reisen mussten.« Es entstand ein tiefer gelegenes, separates Tunnelsystem, das die für den Adel wichtigsten Standorte in der Stadt miteinander verband: Buckingham Palace, St. Paul’s, Parlament und Tower; dazu die wichtigsten Hotels in den schicken Westendvierteln, wo die Prinzen von Wales ihre Liebschaften empfingen; und nicht zu vergessen die weiträumigen Parkanlagen Londons. Man munkelte, dass es unterirdische Paläste gab, prunkvolle Bahnhöfe, errichtet mit Böden aus Marmor, gepolsterten Bänken und Fahrplananzeigern aus Ebenholz und den edelsten Materialien. Goldverzierte Züge fuhren dort unten, elegant und modisch ausgestattet. »Schon meine Mutter hat mir davon erzählt«, hatte Mrs. Philbrick betont. Als wäre dies eine zuverlässige Quelle gewesen, hatte Emily gedacht, wenn Mrs. Philbrick schwafelte und sie selbst währenddessen die Reste von den schmutzigen Tellern kratzen musste.
    Damals hatte sie die Geschichten der Köchin müde belächelt.
    Jetzt wurde Emily eines Besseren belehrt.
    Denn Mr. Fox und Mr. Wolf führten sie nach Croxley.
    Und dieser Bahnhof entsprach den Beschreibungen der Köchin vollends.
    Emily fand sich im Empfangssaal eines Palastes wieder. Zumindest erweckte der breite Bahnsteig mit den angestaubten und samtgrün gepolsterten Bänken und spinnwebenüberzogenen Stühlen, verschnörkelten runden Tischen und den hier und da am Boden liegenden Skeletten, die in dunkelroten, einstmals schön anzusehenden Pagenuniformen steckten, den Eindruck, dass dies einmal ein Ort gewesen sein mochte, an dem aussschließlich die Schönen und Reichen und Edlen der Welt verkehrt hatten.
    »Was ist denn hier passiert?«, flüsterte Emily erstaunt.
    In den Uniformen der Pagen steckten lange Messer und wuchtige Hellebarden. Eines der Skelette hatte man an die Anzeigetafel für die Fahrpläne gebunden. Bei näherem Hinsehen erkannte Emily erschrocken, dass man den Pagen, von dem nicht mehr als einige gelbe Knochen übrig waren, mit langen und nunmehr rostigen Nägeln dort
angeschlagen
hatte.
    Mr. Fox und Mr. Wolf warfen einen Blick auf den Fahrplan.
    »Vierundzwanzig Minuten«, grummelte Mr. Wolf.
    Und Mr. Fox ergänzte: »Und

Weitere Kostenlose Bücher