Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
hatte ich Emily einst gesagt, »verhalten sich dumm.«
Dessen eingedenk gewöhnte man sich an das Gedränge, ließ man sich inmitten der gehetzten Leiber in den Zug hineinschieben.
So verließen wir Barkingside.
Es war Emilys erster Besuch in der Welt der tausend Aquädukte gewesen. Wie es ihre Art war, hatte sie sich jedoch gänzlich unbeeindruckt gezeigt von dem Zusammenspiel aus Baukunst und Zerfall und dem Nebeneinander tosender Wasserfälle aus klarem Trinkwasser und modriger Abwasserfluten. Zu sehr beschäftigten sie jene Bilder, die zu sehen man sie erneut gezwungen hatte.
Emily hatte die Hände tief in den Taschen ihres Mantels vergraben und schaukelte im Takt des ratternden Zuges gedankenverloren hin und her.
»Ist alles in Ordnung?«
»Kommt darauf an, was Sie meinen.«
Dieses Kind!
»Geht es Ihnen gut?«
»So gut, wie es mir nach einer Toderfahrung eben geht.«
Ich wusste, dass ihre Hände noch immer zitterten und dass in ihrer Erinnerung die Bilder, die sie gesehen hatte, wieder und wieder aufflammten. Schon früher waren wir an Orte gerufen worden, an denen Emily Laing gemäß ihrer Fähigkeiten in die Bilderwelt eines Toten abgetaucht war.
»Sie ist mit diesem Talent gesegnet«, war Miss Monflathers’ Meinung dazu gewesen, »und deswegen muss das Kind sie auch einsetzen.«
Muss ich erwähnen, dass Emily dies geringfügig anders sah?
»Es ist nicht nur das zweite Gesicht«, hatte sie mir einmal erklärt. »Es ist, als würde ich selbst innerlich sterben.« Denn dies war es, was eine solche Erfahrung bedeutete. »Es ist, als würde ich dem Toten die Erinnerung an seine letzten Momente in diesem Leben stehlen.« Emily Laing fürchtete sich davor, in den Gefühlen eines sterbenden Menschen zu wandeln. »Weil ich jedes Mal glaube, dass ein Teil von mir dort bleibt. In diesem kalten Nichts, das ich schon in den aufgerissenen leeren Augen erkennen kann, bevor mein Geist überhaupt nach den Erinnerungen tastet.«
Und als sei dies noch nicht schlimm genug, musste sie nun auch noch die Kunde, dass es Alexander Grant gewesen war, der seinen Kollegen auf bestialische Weise ermordet hatte, dessen Freundin überbringen.
»Können Sie das nicht für mich erledigen?« hatte sie mich in der Tottenham Court Road gebeten, wo wir die U-Bahn verlassen hatten.
»Miss Holland ist ihre Freundin.«
»Das ist nicht fair.«
»Ich weiß.«
»Das ist keine Aufgabe für mich.«
»Sie ist Ihre Freundin.« Musste ich das wiederholen?
Emily seufzte.
»Ich bin noch ein Kind.«
»Es wird
Ihr
Trost sein, Emily, den Miss Holland benötigt.« Dann hatte ich inne gehalten. »Hören Sie, wie schwer es Ihnen auch fallen mag, für Miss Holland wird es besser sein, die schlimme Neuigkeit von Ihnen zu erfahren.«
Im Grunde genommen war Emily bewusst gewesen, dass ich Recht hatte.
Und während ich mich auf den Weg ins Britische Museum machte, ging Emily zum Charing Cross hinunter, düsteren Gedanken nachhängend.
So viele Stunden hatte sie während der vergangenen Jahre mit Eliza verbracht. In den Pausen während der Arbeit im Raritätenladen war es ein Leichtes gewesen, den kurzen Abstecher ins »Havisham’s« zu machen und bei Kräutertee und Gebäck in Gesprächen zu versinken. Eliza nahm Anteil an Emilys schulischen Problemen und spendete ihr Trost, indem sie von ihrer eigenen Schulzeit, die sie größtensteils in einer Privatschule in Salisbury verbracht hatte, erzählte. Sie sprach mit Emily über all die Veränderungen, die das Leben einer Sechszehnjährigen zur Hölle machen können. Sie hatte Emily so vieles gegeben.
Und Emily konnte sich nicht einmal dafür bedanken.
»Es war Alexander.«
Alles, was Emily jetzt tun konnte, war dazusitzen und Eliza Gesellschaft zu leisten, während sie fassungslos nach Antworten suchte und sich schließlich der letzten Worte des Inders entsann: »Vetala-pancha-Vinshati?«
Ungläubig starrte Eliza Emily an. »Bist du dir sicher, dass Seth diese Worte ausgesprochen hat?«
Emily nickte.
»Ja.«
»Du weißt, was es bedeutet?«
»Nein.«
»Ich werde es dir sagen«, erklärte Eliza. Und während es draußen in Strömen regnete, erfuhr Emily in dem nunmehr geschlossenen Antiquitätengeschäft von der Bedeutung jener Worte; furchtsam hoffend, dass es sich dabei um nichts anderes als eine Geschichte handeln würde und insgeheim ahnend, dass der Funken Wahrheit, der jeder Geschichte innewohnt, bereits lodernd entfacht worden war in der Stadt der Schornsteine.
Kapitel 3
»Ye
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