Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
an mich herangetreten, und fast schon hatte ich befürchtet, sie wolle an die Hand genommen werden.
»Es ist, wie es ist«, hatte Ahmed Gurgar lapidar festgestellt. »Der gesamte Bahnhof wird ausschließlich von Lazarus-Menschen betrieben. Die CIWL hat ihren Profit vervielfachen können, seit sie die Personalstruktur mithilfe von Lazarus umgestellt hat.«
Nun denn.
Andere Länder, andere Sitten.
Im Endeffekt waren wir jedenfalls froh gewesen, den seltsamen Bahnhof verlassen zu können. Ein Aufzug hatte uns hinauf zur Rue de Londres gebracht, wo Ahmed Gurgar ein Taxi herbeigewinkt hatte, in das wir bereitwillig eingestiegen waren und uns zum anderen Seine-Ufer hatten bringen lassen. Der Taxifahrer, ein redseliger Mensch mit bretonischem Akzent, hatte unverdrossen auf uns eingeplappert, was die Fahrt nicht unbedingt angenehmer gestaltet hatte.
Emily indes hatte aus dem Fenster auf die fremde Stadt geschaut, die Boulevards und Avenuen und Rues in der von Laternen und Neonlichtern erhellten Dunkelheit vorbeiziehen lassen und schließlich die Augen geschlossen und zum ersten Mal seit unserer Ankunft in Paris ihre Gedanken auf die Reise geschickt und nach den Gefühlen des Mädchens gesucht, das ihr so vertraut war und von dem sie glaubte, es hier finden zu können. Doch nirgends hatten sich Spuren von Aurora Fitzrovia gefunden. Enttäuscht hatte sie wieder die Augen geöffnet und erkennen müssen, dass wir am Ziel der Fahrt angekommen waren.
Im Quartier Latin.
Ein eisiger Regen schlug ihr nun ins Gesicht, als sie vor dem Institut du Monde Arabe stand, dessen Fassade aus tausenden von Aluminiumblenden besteht, die sich am Tage je nach Sonnenintensität zu erweitern oder zu verkleinern vermögen. Ahmed Gurgar, der den Taxifahrer entlohnt hatte, stand bereits weiter oben auf der Treppe am Eingang des modernen Gebäudes, als ein Fegefeuer aus dem nassen Kopfsteinpflaster schlug und in unsere Richtung züngelte.
»Wittgenstein!«
Aufgeregt deutete Emily in Richtung der Flammen.
»Ich habe es gesehen.«
Es war eine Feuersäule, die an die vier Meter messen mochte und, wie es aussah, einfach so aus dem Boden gewachsen war.
Ahmed Gurgar stand wie angewurzelt da.
Lady Mina fiepte ängstlich.
»Was ist das?«
»Ein Fegefeuer.«
Ich hatte von solchen Erscheinungen gelesen.
Doch nimmer hätte ich geglaubt, jemals eines zu Gesicht zu bekommen, zumal die Existenz solcher Phänomene als höchst zweifelhaft angesehen wurde. McDiarmid hatte dereinst von Fegefeuern zu berichten gewusst, die in der lybischen Wüste gesichtet worden seien. Doch war dies bereits Jahrhunderte her gewesen.
»Was tut es?«, wollte Emily wissen.
Gute Frage.
Es brannte.
Loderte.
Da, mitten auf der Straße.
Dann bewegte es sich mit einem Mal auf uns zu. Dort, wo es den Boden berührte, barsten die Steine. Wo es parkende Autos streifte, schmolz Metall in Sekundenschnelle. Es knisterte und knackte, und je näher es kam, umso deutlicher stach einem der beißende Geruch nach Schwefel in die Nase.
»Was sollen wir jetzt tun?« Emily war neben mich getreten.
»Fragen Sie lieber nicht«, grummelte ich ratlos und stellte mich zwischen das Mädchen und das Fegefeuer, was mir in Anbetracht der Situation die beste Handlungsmöglichkeit zu sein schien.
Ahmed Gurgar, der oben an der Treppe stand, hatte die Augen geschlossen und murmelte etwas. Er wirkte gelassen und, das war das Absonderliche an der ganzen Sache, in keiner Weise beunruhigt.
Emily zupfte an meinem Mantel.
Etwas stimmte hier ganz und gar nicht.
»Ich versuche es aufzuhalten«, murmelte ich. Hoffend, dass dies die richtige Entscheidung war. »Doch wenn das, was ich vorhabe, misslingt, dann …« Eindringlich sah ich Emily samt Rättin von der Seite an. »Warten Sie nicht auf mich.« Mittlerweile hatte auch Emily bemerkt, dass sich Ahmed Gurgar seltsam verhielt. »Laufen Sie fort, so schnell es geht.« Verzweiflung wurde in des Mädchens Blick geboren, in eben diesem Moment, durch eben diese Worte. Denn sie hatte nicht die geringste Ahnung, wohin sie laufen sollte. In einer fremden Stadt befand sie sich. In einem Land, dessen Sprache sie nicht einmal beherrschte. »Trauen Sie niemandem, und meiden Sie Maspero und diesen Ahmed Gurgar.«
»Werden Sie mich suchen?«
Das Fegefeuer kam viel zu schnell auf uns zu.
Eine stinkende Hitze schlug mir ins Gesicht.
»Wir werden uns wiedersehen«, versprach ich ihr, »was auch immer geschieht.« Ich konzentrierte mich und ließ die Energie in die
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