Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
Hände strömen, formte einen Wirbel wie den, der uns vor dem verrückten Arachniden unten in Goldhawk geschützt hatte, und warf diesen Wirbel dem Fegefeuer entgegen. Ich spürte, wie die Hitze meine Finger berührte, wie der Wirbel, den ich entfacht hatte, allmählich von dem Fegefeuer geschluckt wurde. »Emily, ich werde Sie finden«, keuchte ich mühsam. »Und jetzt laufen Sie!« Die letzten Worte schrie ich laut. Verzweifelt.
Ahmed Gurgar lächelte wissend.
Ich sah Emily Laing hinterher, wie sie in die Dunkelheit der fremden Stadt rannte. Fast war mir, als hörte ich ihre Schritte auf dem Kopfsteinpflaster.
Dann erstarb der Wirbel, und das knisternde Fegefeuer kam über mich. Lodernd und gierig wie hungriger Schwefel fiel es mich an, und die Pforten der Hölle öffneten sich, um mich willkommen zu heißen.
Kapitel 3
Aurora
Die Bilder kamen und gingen, wie sie es seit Tagen bereits taten, in Fetzen, Bruchstücken, Schnappschüssen. Fotografien mit zerfransten Rändern waren sie, unzusammenhängend und bedrohlich, als wehe sie ein lautloser Sturm durch das Bewusstsein. Schwarz-weiße Menschen tummelten sich in den Bildern, schmutzige Kinder mit sorgenvollen Gesichtern und Spiegelscherbenaugen. Insektenhafte Wesen von riesiger Statur bevölkerten eine Höhle, die ein Eispalast gewesen war und nun nicht mehr war. Blitzlichtartige Eindrücke von etwas, das einmal ein Leben gewesen war. Ja, daran erinnerte sich Aurora Fitzrovia. Ihr eigenes Leben war das gewesen.
Und?
Stimmen!
Ja, auch Stimmen waren zu hören.
In ihrem Kopf.
Wo sonst?
Mit geschlossenen Augen hörte sie die Stimmen wispern. Nur in der tiefen Dunkelheit sprachen sie zu ihr, und dann, wenn sie die Augen öffnete, war sie wieder in dem kargen Zimmer, wo die rostige Heizung klapperte und der Putz von der Decke und den Wänden bröckelte und die Schreie vom Korridor her hallten, dem geheimnisvollen Korridor, der irgendwo jenseits des hellen Neonlichts war, dem sie nicht zu entrinnen vermochte, weil sie sich nicht mehr bewegen konnte, weil man sie an einem der Krankenbetten festgeschnallt, Hand- und Fußgelenke in Gummischlingen gesteckt hatte, als sei sie tobsüchtig und eine Gefahr für die Ärzteschaft.
Ganz schwach fühlte sie sich.
Allein.
Leblos.
Wie tot.
Doch das war sie nicht.
Nein, nicht tot.
Denn sie atmete.
Träumte.
Oh ja, und wie sie träumte.
Schlimme Dinge, die einmal geschehen waren und die sie noch schmecken konnte. Dinge, die nur so taten, als seien sie ein Traum. Ein Traum in einem Traum in einem Traum, der immer wiederkehrte und sie erwachen ließ. Und wenn sie glaubte, der Traum sei endlich vorbei, dann fand sie sich in dem kargen Raum voller seltsamer Gerätschaften wieder, in dem sie nun schon so lange war, dass sie die einzelnen Ritzen und Rillen in den Wänden voneinander zu unterscheiden vermochte.
Tage, Wochen, Monate?
Sie atmete.
Noch.
Immerhin.
Trotz der Medikamente, die man ihr gab.
Die
er
ihr gab.
Daran merkte sie, wie die Zeit verging.
Dass
die Zeit verging.
An den Tabletten, die man sie einzunehmen zwang.
Die Nadeln der Spritzen waren die mahnenden Zeiger ihrer ganz persönlichen Uhr geworden, die einen Takt schlug, so kreischend und unwirklich, dass sie manchmal hoffte, es sei doch nur ein Traum.
»Mein armes Kind«, hörte sie die Stimme, die süße Worte säuselte, während die schlanken Finger die Kanülen unter ihre Haut stachen und etwas durch sie hindurchfließen ließen. Etwas, das sie mit Ruhe erfüllte. Etwas, das wohltuend war. Etwas, das sie träumen ließ.
»Ich bin nicht verrückt«, flüsterte Aurora benommen, und es kam ihr vor, als habe sie diese Worte schon unzählige Male vorher wiederholt. In eben diesem Raum. In Gegenwart eben jener Person, die neben dem alten Bett mit dem Stahlrahmen und der muffigen Matratze stand und die medizinischen Daten der Patientin, die sie selbst war, studierte.
Und Aurora tat, was sie immer tat.
Sie weinte.
Nicht, dass sie das gewollt hätte.
Nein!
Doch konnte sie die Tränen einfach nicht mehr zurückhalten. Sie sprudelten so wild aus ihr hervor, als sei ein unerschöpfliches Reservoir an Traurigkeit ganz tief in ihr drinnen zu finden. Eine Quelle, die nicht versiegen würde, solange sie in diesem Raum gefangen war.
»Wissen Sie, wer Sie sind?«
Und Aurora fragte sich, wann die Stimme ihr die Frage zum ersten Mal gestellt hatte.
Gestern?
Vor Jahren?
Gerade eben?
»Ich bin Aurora Fitzrovia«, flüsterte sie.
Ganz trocken war ihr der
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