Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
viktorianischen Ära. Unter dem Fenster, das den Blick freigab auf die schiefen Dächer und dunklen Fenster der anderen Häuser, stand ein elegantes Sofa, davor ein runder Tisch sowie drei mit verschnörkelten Armlehnen versehene Sessel aus braunem Leder. In einem dieser Sessel saß Eliza Holland, die Beine übereinander geschlagen, in ihrem schwarzen Kleid und musterte uns zufrieden. »Sie haben also alle zu mir gefunden.«
»Sieht so aus«, murmelte Micklewhite und fügte süffisant hinzu: »Miss Havisham.«
»Estella Havisham ist, wie Sie doch sicherlich bereits gewusst haben, mein Künstlername«, erklärte sie, ohne den Blick von uns abzuwenden. »Das böse Mädchen, das Pips Herz bricht.« Sie lächelte. »Wenn ich Gedichte vortrage, dann bin ich Estella.« Nachdenklicher fügte sie hinzu: »Oder wäre es gern.« Dann verschwand das Lächeln, als habe ihr jemand vor gar nicht so langer Zeit das Herz gebrochen. »Es ist gut, daß Sie gekommen sind. Emily hat mir von dem, was sie in Barkingside gesehen hat, berichtet.« Ganz kalt funkelten die hellen Augen nunmehr. »Und es hat mir gar nicht gefallen, was ich da zu hören bekam.« Nicht einmal wütend sprach sie diese Worte aus. Eher bedauernd. Als läge ein Nebel über ihrer Stimme. Abgrundtief traurig.
Maurice Micklewhite ergriff das Wort. »Es tut mir Leid, Sie nicht früher in Kenntnis gesetzt zu haben, doch wir waren zum Stillschweigen verpflichtet. Die Ereignisse machten dies notwendig.« Der helle Anzug mit den weißen Knöpfen, den Maurice Micklewhite trug, zeugte vom modischen Geschmack seiner Gattung. »Alexander Grant und Amrish Seth«, kam er auf den Punkt, »waren mit Nachforschungen in einer dringlichen Angelegenheit betraut gewesen.«
»Wollen Sie mir davon berichten?«
»Deswegen sind wir hier.«
»Ja, und wegen der Dinge, die aufzuschieben die Zeit nicht länger duldet.« Sie lächelte wieder dieses kalte Lächeln. »Doch, bitte, nehmen Sie Platz.«
Wir taten wie geheißen.
Nur Maurice Micklewhite blieb stehen und verschränkte die Arme hinter dem Rücken.
»Bisher«, begann ich die Konversation, »gibt es noch keine Spur von Doktor Grant.«
Eliza Holland nahm die Bemerkung zur Kenntnis. Sie seufzte leise, war um Fassung bemüht.
»Die Einwohner von Brick Lane Market«, stellte Maurice Micklewhite klar, »erzählen sich neuerdings seltsame Geschichten. Es verschwinden Menschen in den Gassen und Katakomben der Stadt. Überall in London. Der Senat ist in hohem Maße beunruhigt. Vor nunmehr einer Woche entdeckten Tunnelstreicher nahe den Abwasserkanälen von Shoreditch eine Art Schrein. Jemand hatte sämtliche Kabel aus einem der alten Sicherungskästen der Stadtwerke entfernt und durch eine hölzerne Figur ersetzt. Sechsarmig und blauschwarz, unbekleidet bis auf eine Girlande aus Köpfen und abgeschlagenen Armen als Schürze.« Maurice Micklewhite rieb sich die Augen. »Um die Figur herum waren Opfergaben verteilt.« Der Elf schaute in die Runde und schwieg, was uns die Natur jener Opfergaben erahnen ließ. »Die Wände waren mit Schriftzeichen übersät, die man als Sanskrit identifizierte.«
Eliza schaute erschrocken auf.
»Kalidurga?«
Der Elf nickte.
»Sie glauben, dass sie hier in London weilt?«
Schweigen.
Die beiden Mädchen warfen einander Blicke zu.
»Wer ist Kalidurga?« Irgendwie kam Emily der Name bekannt vor.
»Kalidurga«, erklärte ich ihr, »ist eine Göttin. Ein Wesen aus der alten Zeit.«
Es war Maurice Micklewhite, der die Erklärung fortführte. »Für die Urvölker Indiens war sie eine Göttin der Erde und des Himmels. Eine Muttergottheit, die alles Leben erschaffen hat.« Er ging in dem Raum mit der niedrigen Decke in gebückter Haltung auf und ab. »Dann jedoch fiel ein Hirtenvolk aus dem Norden nach Indien ein. Aryas, so nannten sich die Invasoren. Und im Gegensatz zu den Ureinwohnern Indiens lebten die Aryas in einem strengen Patriarchat. Frauen waren von nun an nurmehr gering geschätzte Begleiterinnen der Männer und der männlichen Götter, darüber hinaus jedoch kaum von Bedeutung. Kalidurga, die einstige Göttin der Fruchtbarkeit, wurde entehrt und aus dem Land, in dem sie seit Anbeginn der Zeit gelebt hatte, vertrieben. Sie flüchtete ins Gebirge, und dort, verborgen in den Höhlen und tiefen Schluchten des Himalaja, fristete sie ihr Dasein.« Doch damit war die Geschichte noch nicht beendet. »Die Aryas aber behandelten die Ureinwohner Indiens wie Sklaven, sodass diese sich in ihrem Kummer erneut
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