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Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Titel: Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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bereits gehört. Eine Berühmtheit war Estella Havisham in den Kreisen, die derartige Darbietungen bevorzugten und sich in Scharen die Eintrittskarten für die uralte Spelunke sicherten, sobald Estella Havisham einen neuen Auftritt auch nur ankündigte. Einmal erst hatte ich einer ihrer Veranstaltung beigewohnt. Damals, als sie aus den Geschichten John Huffams im Beisein des Verfassers gelesen hatte.
    Zweifelsohne besaß sie Talent.
    Und sie wusste sich in Szene zu setzen, was meinen Begleiterinnen, wie unschwer zu erkennen war, imponierte.
    Den Kopf leicht gesenkt, hielt Eliza Holland die Augen geschlossen, die Arme weit ausgebreitet. Ohne sich zu bewegen, kündigte sie das nächste Gedicht an.
    »The Face that Launched a Thousand Ships.«
    Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite, drehte die Handflächen langsam nach oben, sodass die Ringe im fahlen Licht der in gusseisernen Haltern steckenden Kerzen funkelten.
    »Von Christopher Marlowe.«
    Ihre Haltung glich der eines Vogels mit ausgebreiteten Schwingen, der bereit war, sich in die Lüfte zu erheben. Dann öffnete sie die Augen und fixierte ihre Zuhörer. Ihre Stimme war eine fließende Melodie, dunkel und verzweifelt. Es war, als zaubere sie die Worte des Dichters aus ihrem tiefsten Inneren hervor. Ihr Partner, dessen Gesicht im dämmrigen Licht nicht zu erkennen war, vervollständigte die Melodie ihrer Worte mit seiner Violine.
    »Vetala-pancha-Vinshati«, murmelte ich.
    Emily beobachtete Eliza und musste an die Begegnung in der Dunkelheit denken, die Aurora und sie hatte erschaudern lassen. Erst vor wenigen Minuten hatten sie mir davon berichtet, nachdem ich eine geschlagene halbe Stunde in der Fleet Street nahe dem Cheshire Cheese auf sie hatte warten müssen.
    Aurora Fitzrovia und Emily hatten sich am Eingang des Virgin Megastores getroffen und waren von dort aus südwärts gegangen. Dabei hatte Emily ihrer Freundin von all dem, was sie an diesem Tag erlebt und gehört hatte, erzählt.
    »Warum tust du das?« Ganz außer sich war Aurora gewesen, als sie von Barkingside Beneath erfahren hatte.
    »In die Metropole hinabsteigen?«
    »Diese Toderfahrungen, die meine ich.« Wütend hatten Auroras dunkle Augen Emily getadelt. »Wittgenstein sollte das nicht mehr von dir verlangen. Es zehrt dich aus, Emmy. Es tut dir nicht gut.«
    »Es musste sein«, hatte Emily nur geantwortet.
    »Ich pass schon auf mich auf.«
    Aurora Fitzrovia hatte dieses Versprechen allerdings nicht zu beruhigen vermocht.
    Schweigend waren die beiden Mädchen ihres Weges gegangen.
    An der Westminster Bridge hatten sie die Themse überquert und waren den von wenigen Lampen nur unzureichend beleuchteten Weg am Südufer der Themse entlanggetrottet. Ein eisiger Wind, der nach Schlick und dem Müll, der überall in den schwarzen Fluten trieb und in Massen an die Ufer geschwemmt wurde, roch, und der wolkenverhangene, in einem seltsam matten Licht schimmernde Nachthimmel hatten baldigen Schnee angekündigt. Das leise Plätschern der Wellen gegen die Ufermauern und das Geräusch ihrer eigenen Schritte auf dem nassen Kopfsteinpflaster waren die einzigen Laute gewesen, die die Mädchen auf ihrem Weg begleitet hatten.
    »Erinnerst du dich an das, was du damals gesagt hast?« Auroras Gesicht hatte aus der hochgezogenen Kapuze ihrer alten Armeejacke herausgelugt. »An dem Abend, bevor Neil fortging?«
    »Ja.«
    »Dass alle Katzen grau sind?«
    Genau das waren ihre Worte gewesen.
    War man nicht erwachsen, wenn man dies verstanden hatte? Dass es nicht wirklich Gutes und Böses gibt, sondern nur etwas, das dazwischen liegt?
    »Genauso fühle ich mich«, hatte Emily gestanden, und Aurora hatte ihrer Freundin Hand ergriffen.
    Die beiden Mädchen hatten einander angesehen.
    Lange Zeit.
    Auf der anderen Flussseite hatte St. Pauls die Dächer der Stadt überragt. Die alterwürdige Kathedrale mit der mächtigen Kuppel, deren Laterne hoch oben erloschen war.
    Der Wind blies den Mädchen in die Gesichter.
    Beide hatten geahnt, dass etwas auf sie zukommen würde.
    Dass sich Ereignisse ankündigten, die unabwendbar waren.
    Sie hatten es gespürt.
    Es förmlich riechen können.
    »Wir werden alles gemeinsam durchstehen, nicht wahr?« hatte Emily schließlich gefragt. »Was auch kommen mag.«
    Leise, fast ehrfürchtig, als seien sie Bestandteil einer Zauberformel, hatte Aurora Fitzrovia die Worte wiederholt. »Was auch kommen mag.« Und sie hatte die Hand ihrer Freundin gedrückt, die sie am liebsten nie wieder

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