Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
Raubtieraugen hatten gefunkelt, und die Lippen hatten sich zu einer Grimasse verzogen, die ein Lächeln gewesen sein mochte. »Und da ich Sie alle für meine Zwecke einzuspannen gedenke«, war al-Vathek fortgefahren, »habe ich das Einzige getan, was Ihnen helfen konnte.«
Ja, er hatte uns von seinem Blut zu trinken gegeben, und in jener Nacht hatte er uns mit den fundamentalen Regeln bekannt gemacht, denen sich ein Wiedergänger unterwerfen muss.
Unnötig zu erwähnen, dass wir nicht gut geschlafen hatten in jener Nacht. Lange hatten wir über unsere Vermutungen und Ängste gesprochen, und zu meinem Leidwesen war Tom nicht einmal dazu in der Lage gewesen, mir eine Geschichte zu erzählen. Nie hätte ich seine tröstenden Worte mehr gebraucht als in dieser Nacht. Die Bilder des toten Tibor hatten mich bestürmt, und wenn ich unsanft aus dem Schlaf aufgeschreckt war, dann hatte ich den langsam atmenden Körper meines Bruders neben mir im Bett gespürt, dessen arme Seele wohl von ähnlichen Nachtmahren heimgesucht wurde wie meine eigene.
Doch hegte ich insgeheim die Hoffnung, dass al-Vathek uns nicht betrügen würde. Wenngleich er auch distanziert und kalt wirkte, so vermittelte er einem dennoch das Gefühl, auf seine seltsame Art ehrlich zu sein. Meine damaligen Gefühle sind schwer in Worte zu fassen, zumal es keinerlei Anhaltspunkte für meine Deutung von al-Vatheks Charakter gab. Es war ein schlichtes Gefühl. Hatte ich die Gräfin vom Anfang unserer Begegnung an für gefährlich und heimtückisch gehalten, so glaubte ich in al-Vathek Ehrlichkeit und vielleicht auch etwas, das man als Weisheit hätte umschreiben können, zu entdecken. Was nicht bedeutete, dass ich den Eindruck hatte, er brächte uns Sympathie entgegen. Er wirkte kalt und bestimmend und ließ in keinem Moment Zweifel daran aufkommen, dass er uns überlegen sei (in welcher Hinsicht auch immer).
Als wir Budapest erreichten und ich die vertrauten Straßen erblickte, beschlich mich fast das Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Die Erlebnisse, die kaum zwei Wochen hinter uns lagen, schienen jedoch um Jahre der Vergangenheit anzugehören. Als wir den Zug verließen und in das Getümmel hinaustraten, strahlte die Sonne auf uns herab und tauchte die Häuser und Straßen in ein mattes unwirkliches Licht. Es war ein wunderschöner Herbsttag, und fast erlag ich der Illusion, meinem Schicksal entfliehen zu können. Wir nahmen ein Taxi und stiegen im Hotel Hungaria ab, wo wir einst mit den Molnárs diniert hatten. Mit einem Lächeln entsann ich mich jenes anstrengenden Opernabends voll freundlichen Geplänkels über die Geschichte Ungarns und insbesondere Budapests.
»Vielleicht sollten wir es wagen«, flüsterte mir Tom im Foyer des Hotels zu.
Er dachte, wie ich auch, an Flucht.
Es wäre ein waghalsiger Versuch gewesen, al-Vathek zu entkommen, doch ahnten wir beide, wie zwecklos ein solches Unterfangen vermutlich sein würde. Zumal sich unsere Empfindungen verändert hatten.
»Ich spüre es«, gestand ich Tom, als wir am Abend durch die Stadt promenierten. »Tief in mir drinnen.«
»Ich weiß, was du meinst.«
Ich sah es ihm an. Er spürte es auch. Es war, als könnte man den Pulsschlag der Welt wahrnehmen. Als schlügen tausende Herzen nur für uns. Wenn wir Menschen begegneten, dann konnten wir es förmlich fühlen.
»Wenn es an der Zeit ist, Nahrung aufzunehmen«, erklärte uns al-Vathek später, »dann steigern sich die Wahrnehmungen.« Seine Raubtieraugen funkelten. »Man kann es wittern, das fremde Blut. Wie es durch die Adern strömt.« Er blickte uns ernst an, und sein rotes Haar leuchtete in der Mittagssonne. »Nie dürfen Sie diesen Drang die Oberhand gewinnen lassen.« Die hellen Augen sahen weit in die Ferne und duldeten keinen Widerspruch. »Carathis tötet mit Wonne. Sie hingegen müssen lernen, sich zu beherrschen. Wir sind keine Tiere.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Wir sind, was wir sind. Wir müssen uns dessen bewusst sein. Und wir müssen Verantwortung übernehmen.« Er wirkte nachdenklich, und Enttäuschung und Zorn schwangen in seiner Stimme mit, als er eingestand: »Das ist es, was Carathis niemals verstanden hat. Wir müssen die Beute ehren, weil sie uns das Leben schenkt. Wir müssen schnell töten. Ohne Reue. Schnell und überlegt. Niemals dürfen wir die Beute leiden lassen und sie zu einem Leben verdammen, das jeder armen Kreatur unwürdig ist.«
Gehorsam nahmen wir uns dies zu Herzen.
In den beiden Wochen,
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