Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
die wir in Budapest verbrachten, lehrte uns al-Vathek die Geschichte unserer Art. Wir erfuhren am eigenen Leib, was wir waren. Wir lernten das schnelle Töten. Der Instinkt, der unser Blut in Wallung versetzt, wenn die Zeit naht, konnte kontrolliert werden. Nein, er musste kontrolliert werden.
Das war der Beginn unseres neuen Lebens.
Immer ähnlicher wurde ich, Eliza Holland, dem kaltherzigen, traurigen Mädchen aus »Great Expectations«, das Estella Havisham hieß.
Ich lernte, arglose Passanten in die Falle zu locken und ihnen flink die Kehle aufzuschlitzen, damit ihre panischen Schreie in einer Fontäne frischen Blutes erstickten. Stacheln benutzten wir dazu, silbrig glänzend und Fingerhüten gleich. Traditionelle Werkzeuge der zivilisierten Wiedergänger. Ich lernte, diszipliniert und maßvoll zu trinken.
»Hast und Übermaß stürzen uns in einen Blutrausch«, erklärte al-Vathek. »Wir verlieren die Kontrolle.« Und wieder betonte er: »Aber die Kontrolle dürfen wir nie verlieren!«
Wir erkannten, dass der Drang nach dieser besonderen Nahrung weniger häufig auftrat, als wir es ursprünglich angenommen hatten. Nicht mehr als zweimal im Monat verlangte es uns nach dem frischen Blut unserer Mitmenschen.
»Wir ermorden demnach nur zwei Menschen pro Monat«, stellte ich al-Vathek gegenüber fest. Und Tom zugewandt: »Ist das nicht ein erleichternder Gedanke?!«
»Und doch ist es Unrecht.«
Nachdem ich getötet hatte (die ersten Male erfüllten mich mit einer schier unbändigen Erregung), befielen mich die Schuldgefühle. Ich machte es mir zur Angewohnheit, die Gesichter meiner Beute zu betrachten. Ich fragte mich, welches Leben sie wohl gelebt hatte. Waren sie glücklich gewesen? Zufrieden? Die Leben wie vieler Menschen zerstörte ich, indem ich über die Beute herfiel? Die Hände meines zweiten Opfers ließen einen Buchhalter vermuten. Ein junger Mann, adrett und pflichtbewusst, der vielleicht irgendwo eine liebe Frau hatte, die nun vergeblich auf seine Heimkehr warten würde. Die Tintenflecken auf seinen Fingerkuppen hatten sich mit seinem Blut vermischt. In einem verlassenen Park hatte ich ihn erspäht und war ihm gefolgt bis in eine Gasse, in welcher ich ihn in eine Toreinfahrt hineingezerrt und ihm die Kehle aufgeschlitzt hatte. Nachdem ich getrunken und ihn betrachtet hatte, schloss ich seine vor Schreck geweiteten Augen und weinte. Ja, ich wusste, was ich war. Wie hätte ich es nicht wissen können? Wenn die Tränen kamen, dann beweinte ich die Beute und doch vielmehr noch mich selbst.
»Es gibt keinen Weg zurück«, hatte al-Vathek gesagt.
Dafür hasste ich ihn.
Ihn und jene abscheuliche Carathis, vor deren Kreaturen er uns gerettet hatte.
Doch als wir die Reise fortsetzten, da begann ich mich mit meinem neuen Leben abzufinden. Der pragmatische Teil meines Selbst gewann für einige Zeit die Oberhand.
Doktor Pickwick ließen wir in Budapest zurück. Vielleicht fiel es Pickwick leichter, die neue Existenz zu akzeptieren, weil er ein Leben hatte, zu welchem er zurückkehren konnte. Äußerlich kaum verändert, nahm er wieder die Arbeit am Krankenhaus auf. Er lebte in seiner gewohnten Umgebung mit den Menschen, die er kannte. Er besuchte die Literaturzirkel im Otthon an der Seite Professor Molnárs (der nicht fassen konnte, dass der arme Tibor das Opfer eines Wolfsangriffes geworden war) und begann, wie er uns versicherte, mit seinen Forschungen (für die er Proben des eigenen Blutes zu analysieren gedachte). Außerdem sprach er immer öfter davon, der Hölle ganz nah zu sein und bald schon deren verschlungene Pfade beschreiten zu können.
Tom und mir blieb indes nur die Möglichkeit, unseren Angehörigen in Salisbury in aller Kürze zu telegrafieren, dass die Dinge in bester Ordnung seien, es uns gut ginge und sich niemand Sorgen zu machen bräuchte.
Und als wir Ägypten erreichten, da brachte mein Bruder es auf den Punkt: »Man lernt, kunstvoll seine Lügen zu spinnen.«
Mit leicht zusammengekniffenen Augen stand ich an Bord der »Carmilla«, die sich langsam dem Hafen von Alexandria näherte. Lang gezogene Ruderboote und große Lastschiffe schaukelten auf der tiefblauen See. Mit lautem Pfeifen bahnte sich unser Dampfschiff den Weg durch den Tumult. Am Horizont konnte ich die große Sonnenscheibe erkennen, die die Luft über den lehmfarbenen Häusern zum Flimmern brachte. Grüne Palmen und hohes Ufergras säumten das Nildelta, und hinter der geschäftigen Oase am Meer konnte man bereits die
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