Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
sah in wilde dunkle Augen.
»Aurora«, flüsterte sie.
Die Angesprochene, die jetzt aufrecht im Bett saß und sie mit aufgerissenen Augen ansah, begann bitterste Tränen zu weinen. Und Emily Laing verstand, dass es ihr eigenes Blut war, das Aurora Fitzrovias Lippen benetzte. »Emmy?« Auroras Stimme war nurmehr ein Krächzen.
Sie weiß gar nicht, was sie gerade getan hat, schoss es Emily durch den Kopf. Sie weiß es nicht, ich sehe es ihren Augen an, dass sie nicht gewusst hat, was aus ihr geworden ist.
Emily Laing ging in die Knie.
Sie zitterte am ganzen Leib.
Betrachtete ihre Hand, die noch immer blutete.
Sachte berührte ich ihre Schulter.
»Wittgenstein?« Verwundert sah sie mich an.
»Habe ich Ihnen nicht versprochen zurückzukehren?«
Mit einem Mal war Emily Laing wieder das kleine Mädchen, das ich vor vier Jahren am Fuße der Rolltreppe in der Tottenham Court Road gefunden hatte. Ängstlich sah sie mich an, und als ich der Rättin gewahr wurde, die neben ihr auf dem Boden saß und zutraulich die Schnauze gegen die blutende Hand drückte, um mich sodann mit wachsamen Kulleraugen zu mustern, da wusste ich, dass sich manche Dinge wiederholen.
So kehrte ich zu Emily Laing zurück.
An einem Tag im Winter.
Nicht lange vor Weihnachten.
Ja, die Welt ist gierig, und manchmal ist ein Schrei, ausgestoßen in der Stille, eine Melodie voller Irrsinn und Verzweiflung.
»Was habe ich getan?«
»Du bist«, flüstert Eliza dem Mädchen zu, »was du bist.«
Wir stehen in dem kargen Krankenzimmer.
Ratlos.
Verwirrt.
»Wird Aurora sterben?«
Ich sehe Emily an.
Untröstlich.
Bleich und schwach steht sie vor mir, und das helle gesunde Auge erfleht eine Antwort, die ich dem Mädchen nicht geben kann.
»Werde
ich
jetzt sterben, Wittgenstein?«
Ich gebe mir Mühe, beherrscht zu bleiben.
»Fragen Sie nicht.«
Denn das ist die einzige Antwort, die ich Emily geben kann.
Die ehrlich ist.
Immerhin.
So aufrichtig wie die Umarmung, in der das Mädchen und der Junge, den ich schon einmal am Brick Lane Market gesehen habe, versinken, als gäbe es kein Unheil in dieser Welt und nur ihrer beider Herzen, die sie an einander verloren haben in den Schlünden der Cité lumière, zu einer Melodie, die außer den beiden niemand zu hören vermag.
Aus
Eliza Hollands
Aufzeichnungen
(Fortsetzung)
Gonville and Caius
, Cambridge
18. Mai 1968
(Datum der Niederschrift)
Bereits am Morgen des folgenden Tages brachte uns eine Kutsche bis nach Klausenburg, wo wir den Zug in Richtung Budapest bestiegen. Draußen vor dem Fenster flog eine mir fremde Welt vorbei. Dichte Wälder und zerklüftete Bergketten, enge gewundene Straßen, auf denen ärmliche Bauern mit ihren Fuhrwerken dem kargen Tagewerk nachgingen. Kleine Dörfer, die alle dem verfluchten Aghiresu ähnelten. Eine Gegend, in deren dunklen Schatten seltsame Kreaturen ihr Unwesen trieben. Die Schöpfungen der Carathis, die so alt war, dass es die Vorstellungskraft eines jeden von uns gesprengt hatte. Die unter dem Namen Gräfin Hunyady am
Isten Szek
herrschte. Ich fragte mich, wie viele der Menschen, die uns mit der bodenständigen Wärme der einfachen Leute vom Land in Aghiresu empfangen hatten, noch am Leben waren. Viele der Einwohner mochten in der Zwischenzeit den jagenden Rudel wilder Vrolok zum Opfer gefallen sein. Viele von ihnen würden die Seuche weitertragen, bevor sie dann endlich stürben.
Tom, der neben mir saß und dessen Arm sich um meine Schulter gelegt hatte, döste in einem unruhigen Halbschlaf vor sich hin. Doktor Pickwick, mir gegenüber sitzend in dem kleinen Abteil, das nach kaltem Tabak roch, blickte ebenso wie ich nachdenklich nach draußen. Und al-Vathek, unser Begleiter, saß ruhig da und beobachtete uns.
»Sie ist ein Tier«, hatte er uns in der Nacht erklärt und Carathis gemeint. »Sie tötet wahllos und trägt die Seuche weiter, ohne sich um die Konsequenzen zu sorgen. Das ist nicht der Wiedergänger Art.«
Und dann hatte er uns berichtet, wie er von den Ausgrabungen im Tal der Könige erfahren hatte und von unserem Bestreben, die Schriften, die er selbst verfasst hatte, zu finden, um auf eine Spur zu stoßen, die uns den Weg zur Grabstätte des Tut-ankh-Amen weisen würde.
»Blut und Speichel der Wesen, die Sie Vrolok nennen«, hatte er uns erklärt, »tragen die Krankheit weiter. Sie alle wären noch vor der nächsten Nacht zu einer der Kreaturen geworden, denen zu entkommen Sie am
Isten Szek
so kläglich versucht hatten.« Die hellen
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