Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
ihr verbracht hatte, erkannte ich, dass sie selten etwas erwartete. Sie wartete einfach ab. Harrte der Dinge, die da kommen mochten. Sie war geduldig und – anders als al-Vathek (wenngleich Tom dem später widersprach) – höchst mitteilsam.
»Vor allem«, fuhr sie fort, »können Sie Sich glücklich schätzen, Carathis entronnen zu sein.«
»Sie kennen sie?«
»Wir trafen uns einmal flüchtig«, bekannte Miss White. »Damals in Zmargad. Sie war noch sehr jung und nicht so verdorben, wie sie es nun ist. Lilith, so lautete ihrer Mutter Name, lehrte sie die Tugenden, die sie selbst am Roten Meer gelernt hatte.« Plötzlich änderte sich der Ausdruck in dem geschminkten Gesicht. »Doch nun ist sie gefährlich.« Der Griff ihrer Hand lockerte sich. »Sie verliert zu oft die Kontrolle. In ihrer Seele wird sie den Kreaturen, die sie erschafft, immer ähnlicher. Zudem – mag ich sie einfach nicht.«
Man kann sagen, dass ich Miss White vom ersten Tag an Vertrauen schenkte.
Später berichtete sie mir von ihrer Jugend im puritanischen England. Von ihrem Leben in London, das von der Pest heimgesucht worden und dann den Flammen zum Opfer gefallen war. Von der Liaison mit John Milton, der damals als Staatssekretär Cromwells eine Person von gewissem Einfluss gewesen war. Milton, der sich der Dichtkunst verschrieben hatte, hatte seinen Töchtern seine höchst freigeistigen Gedanken über ein verloren gegangenes Paradies diktiert, eine Aufgabe, die Wilhelmina White später zu Ende gebracht hatte. Mit einem zaghaften Lächeln deutete sie an, dass auch sie ihren Teil zum Entstehen dieses Werkes beigetragen habe.
Dann war sie auf Reisen gegangen.
»Denn das ist es, was unser Dasein ausmacht«, erklärte sie mir. »Wir verbringen unser Leben an vielen Orten. Wollen wir unentdeckt bleiben, ist das die einzige Wahl, die uns bleibt.«
War es also das, was mich erwartete? Ein Leben voller Unrast? Würde ich niemals einen Ort auf dieser Welt mein Zuhause nennen können?
Den Depressionen, die mich am Weihnachtsfest 1920 befielen und die ihre Ursache zweifelsohne in meinen Gedankenspielen hatten, konnte ich nur schwerlich begegnen. Selbst Miss Whites Geschichten und weise Ratschläge waren nicht dazu geeignet, mich aus diesem Tal des Jammers hervorzulocken. Ich wusste, dass Tom nur wenige Tage nach dem Fest mit al-Vathek nach Jerusalem aufbrechen und wir lange Monate voneinander getrennt sein würden. Al-Vathek hatte sich selbst zum Mentor meines Bruders auserkoren und gedachte, ihm die alten Stätten der Antike zu zeigen. Der Vorwand der wissenschaftlichen Suche diente nur dazu, Howard Carter einen Grund für unser Verhalten zu liefern.
Ich entsann mich der Weihnachtsfeste in meiner Heimat. Der Kälte und des Schnees und meiner Eltern, die sich bestimmt fragten, wie es ihren beiden Kindern wohl ergehen mochte (wenngleich wir ihnen brieflich unser Wohlsein versichert hatten). Die Gesichter alter Freunde bestürmten mich wie Geister. Es gab zu viele Bilder des Verlustes. Das Leben am Trinity College, die Spaziergänge in den Wäldern nahe Salisbury, der Geruch des Meeres an der Steilküste und das Bimmeln der kleinen Türglocke im Antiquariat meines Bruders. Vage entsann ich mich der Berührung von Arthurs Händen, des Geruches seiner Haut, seiner nassen Haare, wenn wir uns auf dem Campus vor dem Regen in Sicherheit gebracht hatten.
»Ist all dies verloren?«, fragte ich Miss White.
Sie schwieg lange, bevor sie eine Antwort gab.
Schnell sollte ich lernen, dass die Zeit die Achillesverse eines jeden Wiedergängers ist. Es scheint, als besäßen wir alle Zeit der Welt. Jedoch in Wahrheit sind wir ihre Sklaven. Der Gedanke an die Vergänglichkeit der Zeit ist gleichbedeutend mit der Gewissheit des Verlustes. Es ist unvermeidbar. Man verliert all jene Dinge und Menschen, die einem ans Herz gewachsen sind. Immer und immer wieder.
Natürlich war Miss White sich dessen bewusst, und ich hielt es ihr zugute, dass sie nach harmlosen Worten suchte, die für mich weniger schwer zu ertragen wären – leichter jedenfalls als die Wahrheit.
»In unseren Erinnerungen halten wir an all dem Schönen fest«, gab sie mir zur Antwort.
Ich wollte etwas erwidern, doch versagte mir die Stimme.
»Damit müssen wir leben.« Sie klang keineswegs glücklich. »Es ist sinnlos, sich den Kopf über Dinge zu zerbrechen, die man nicht ändern kann.« Von irgendwo her drang das Jaulen eines Schakals in das Zelt, in dem wir uns befanden. »Nehmen Sie es hin,
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