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Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Titel: Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Dasein zu akzeptieren. Miss White machte mir bewusst, dass wir uns nicht so sehr von den Menschen unterschieden, wie wir dachten.
    »Wir nehmen dreimal täglich an den Mahlzeiten teil«, sagte sie. »Wir genießen gutes Essen und auch Wein.«
    »Und wir müssen arbeiten«, fügte ich hinzu.
    Ich quälte mich acht Wochen lang jeden Tag ins Tal hinaus, um mit Howard Carter in irgendwelchen schmutzigen Löchern herumzukriechen. Gemeinsam mit Miss White begannen wir die Wandtexte im KV55 zu übersetzen. Durch sie erhielten wir Aufschluss über das Leben im damaligen Königreich. Hier und da konnten wir einige wenige Fundstücke bergen: so das Fragment einer Kanopenvase mit dem Namen der Königin Takhat (der Gemahlin von Setoy dem Zweiten). Ende Februar entdeckte Ahmed Gurgar ein Versteck für Grabbeigaben, das vor allem Rosetten aus Bronze enthielt.
    Genau hier lag das Problem Howard Carters. Auf dem Antiquitätenmarkt in Kairo wartete man auf sensationelle Funde. Hauptkäufer in unserem Fall waren das Metropolitan Museum von New York und Lord Carnarvon persönlich. Das Britische Museum hielt sich bei den Kaufgesuchen zurück, und der in Kairo weilende Kurator Maurice Micklewhite, dem wir vor unserer Abreise nach Budapest kurz begegnet waren, beäugte jedes der Fundstücke mit Argusaugen, als vermute er hinter allem eine Fälschung. Seine Autoritäten nahmen Carter gegenüber eine höchst abfällige Haltung ein, weil dieser nicht von einer großen Universität diplomiert worden war. Die mit Titeln versehenen Kollegen konnten sich nicht dazu herablassen, den Autodidakten zu respektieren. Hinzu kam, dass der Wert der Fundstücke in keiner Relation zu den hohen Summen stand, die von Lord Carnarvon investiert worden waren.
    Es schien, als habe das Tal nicht mehr zu bieten.
    »Suchen wir nach Gespenstern?«, fragte ich Miss White.
    »Wie meinen Sie das?«
    Ich erklärte es ihr. Dann stellte ich die Frage, die mir schon lange Kopfzerbrechen bereitete: »Warum interessiert sich al-Vathek für die Suche?« Sie warf mir einen überraschten Blick zu. »Was erhofft er sich von den Grabungen?«
    Miss White seufzte. »Er hat Ihnen kein Wort darüber gesagt?«
    »Nein.«
    »Das sieht ihm ähnlich«, meinte sie.
    Wir saßen in einem der Zelte nahe dem Eingang zum KV55. Ein leichter Wind umwehte uns, während wir – typisch Engländer – den nachmittäglichen Tee zu uns nahmen.
    »Sagen Sie es mir«, bat ich sie.
    Miss White wirkte nachdenklich. Die blauen Augen verloren ein wenig von ihrer Helligkeit. »Ich denke, es ist an der Zeit, Sie einzuweihen, mein Kind.« Seit einigen Wochen schon nannte sie mich des Öfteren so, was ein Gefühl der Vertrautheit zwischen uns hatte entstehen lassen.
    »Was geht hier vor?«
    »Lassen Sie mich zuerst Ihnen eine Frage stellen.« Sie nippte langsam an ihrem Tee. »Was wissen Sie von ihm?«
    »Al-Vathek?«
    Ein kurzes Nicken.
    »Ich kenne die alten Geschichten. Die Freundschaft zu Tut-ankh-Amen. Der Sandsturm in der Wüste. Ghulchissar. Achet-Aton.«
    Mit einer Handbewegung unterbrach mich Miss White. »Das sind bloß alte Geschichten.«
    »Sie meinen, sie entsprechen nicht der Wahrheit?«
    »Nicht ganz. Jede Geschichte hat einen wahren Kern.« Erneut seufzte sie. »Wüssten wir nur, was uns erwartet«, flüsterte sie, und diese Worte waren nicht an mich gerichtet. »Mein Kind, die alten Geschichten, die in den Straßen von Kairo und Karnak und den nächtlichen Oasen erzählt werden, zeugen von der Angst der Menschen vor dem Unbekannten. Die Menschen fürchten Ghule und andere Wesen, die der Schlund der Wüste des Nachts in die Freiheit entlässt, solange die Sonnenscheibe vom Firmament verschwunden ist. Sie fürchten al-Vathek. Für die Menschen hier ist er ein Ghul, eine Blut trinkende Kreatur aus ihren dunkelsten Träumen. Sie ängstigen Kinder mit diesen Geschichten. Doch haben sie keine Ahnung, was wirklich geschah. Damals.«
    »Nun erzählen Sie schon«, drängelte ich.
    »Haben Sie doch Geduld.« Ein Lächeln zeigte sich in dem Gesicht. Draußen vor dem Zelt konnten wir die Arbeiter erkennen, die am Horizont damit beschäftigt waren, eine neue Grube auszuheben. »Nun gut, mein Kind. Hören Sie zu. Lassen Sie mich Ihnen offenbaren, um was es hier wirklich geht.«
    Und dies sind die Geschehnisse aus alter Zeit, die ich an jenem Nachmittag aus dem Munde meiner Mentorin Wilhelmina White vernahm …
    Es ist die Geschichte al-Vatheks aus dem Land der zwei Ströme, dessen Reisen ihn an den Hof von

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