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Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Titel: Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Eliza. Versuchen Sie damit umzugehen. Die Schmerzen werden weniger werden. Verschwinden jedoch werden sie niemals.«
    Das waren die seligen Worte zum Weihnachtsfest gewesen. Was hätte jetzt noch meine Laune verderben können? Howard Carter jedenfalls gab sich große Mühe, das Fest als etwas Besonderes zu gestalten. Die gesamte Mannschaft der Grabung (einschließlich der einheimischen Arbeiter) hatte er zu einem kleinen Mahl eingeladen. In den Wochen vor dem Fest hatten sich die Arbeiter damit beschäftigt, das Grab von Ramses dem Elften zu reinigen und die Spuren der elitären Touristen zu entfernen. Jetzt wurden die kühlen Gänge als Speisesaal und Lager für französische Weine verwendet. Man hatte Stühle und Tische aufgestellt, dazu langstielige Kerzen, die eine wunderbare Atmosphäre heraufbeschworen.
    In der heiligen Nacht dann machte Tom mir das schönste Geschenk, das man sich denken konnte. Er erzählte mir eine Geschichte. Ich lag neben ihm im Bett seines Zimmers im Castle Carter, spürte seine Hand durch mein Haar streichen wie damals, als wir Kinder waren, und lauschte den leisen Worten, die so vertraut waren und mir vorgaukelten, daheim in Salisbury zu sein, als kleines Mädchen, das noch keine Ahnung hat von den Dingen, die es in der Welt da draußen erwarten. Es war die Geschichte eines Dienstmädchens in Bombay, das zu lachen verlernt hatte, weil ein böser Ghul all seine schönen Gedanken gestohlen hatte. Die Kleine machte sich auf die Suche und fand nach langen Jahren der Wanderschaft eine Perle, die all jene wundersamen Gedanken enthielt. Doch erst nachdem sie den Mann ihres Herzens gefunden und verloren hatte (er starb während der Eroberung des Khyber-Passes) und die Perle am Fußes eines Baumes, der auf dem Grab des Geliebten zu wachsen begann, vergraben hatte, kehrte das Lächeln in ihr trauriges Gesicht zurück.
    Ich schlief nicht ein in dieser Nacht.
    Während mein Bruder sanft dahindöste und vor dem Netz die Moskitos surrten, lauschte ich seinem Atem, genoss das sanfte Auf und Ab seiner Brust und hoffte, niemals um ihn trauern zu müssen.
    Am nächsten Tag brachte ich ihn zum Bahnsteig, wo er mich umarmte und leise flüsterte: »Wir werden uns bald wiedersehen.«
    Ich klammerte mich an ihm fest und wiederholte die Frage, die ich ihm damals in Budapest gestellt hatte: »Wohin wird uns die Reise führen?«
    Als er mich ansah, erkannte ich die Tränen in seinen Augen. Er erinnerte sich an den Augenblick. Es war, als stünden wir wieder am Donaukai, die Sonne im Gesicht und das Herz voller Zuversicht. Bevor er mich verließ, gab er mir einen Kuss auf die Stirn und sagte: »Zu Reichtum und Ruhm, kleine Eliza.«
    Dann bestieg er den Zug, wo al-Vathek bereits auf ihn wartete.
    Zu Reichtum und Ruhm, lieber Bruder, dachte ich wehmütig und wünschte ihm Glück.
    »Das große Ziel des Lebens ist das Empfinden«, hatte Miss White einst ihren Bekannten Lord Ruthven zitiert. »Zu spüren, dass wir existieren, wenn auch unter Schmerzen. Es ist diese sehnsuchtsvolle Leere, die uns antreibt.« Ihr Begleiter Charles Dombey, ein hakennasiger seltsamer Mann unbestimmbaren Alters, hatte dem zugestimmt, während Wilkie Collins, der blass und schweigsam die Koffer meiner Mentorin zu schleppen pflegte, wieder einmal geschwiegen hatte. Und tatsächlich stimmte das, was sie gesagt hatte. Was Lord Ruthven gesagt hatte.
    Mit jeder Jagd wuchs die Leere.
    Miss White schärfte mir ein, Obacht walten zu lassen bei der Wahl der Beute. Als wir den vermeintlichen Sarkophag al-Vatheks vor wenigen Monaten entdeckt hatten, war der Aberglauben der Einheimischen deutlich zutage getreten. Wir mussten verhindern, dass erneut Gerüchte aufkamen. In Anbetracht der schwierigen Finanzierung der Grabungen mussten weitere Verzögerungen auf jeden Fall vermieden werden. Aus diesem Grunde hielt ich in den Außenbezirken Karnaks Ausschau nach meiner Beute. Ich suchte die Hütten der Arbeiter heim und wählte die Opfer behutsam aus. Das Gefühl der Reue stellte sich jedes Mal ein. Wie gern hätte ich Worte der Absolution vernommen, doch war dieser Wunsch für Wesen unserer Art unerfüllbar.
    Also handelte ich wie ein Wiedergänger, trank maßvoll und vorsichtig und tötete die Beute schnell. Schon bald gewöhnte ich es mir ab, nach der Tat neben der Beute zu verharren, um stille Einkehr zu halten. Es war sinnlos. Ich konnte ihnen noch so oft die Augen schließen, meine Tat würde ich dadurch nicht ungeschehen machen. Also begann ich mein

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