Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
schon lange eine Wüste gewesen waren, wortwörtlich zu einer solchen geworden waren.
Pilatus Pickwick, auf dessen Schulter das Irrlicht hockte, sagte: »Sie ist einfach so zu Sand zerfallen. Als habe die Maske sie vertilgt.«
Lilith blickte kalt auf Aurora hernieder. »Staub, was einst Staub gewesen ist.« Sie berührte des Mädchens Gesicht, und eine Träne glitzerte auf ihrer Fingerspitze, als sie die Hand zurückzog. »Es tut mir Leid«, flüsterte sie, und es war mehr von Eliza in dieser Stimme als von Lilith. »Ich weiß, was Verlust ist. Das musst du mir glauben. So viele Menschen habe ich sterben sehen.« Sie sah die Umstehenden an. »Doch jeder, der den Staub, zu dem Carathis geworden ist, geatmet hat, wird leben.« Ein Lächeln deutete sich in ihrem Gesicht an. »Ja, jeder, der Carathis geatmet hat, ist geheilt. Denn wer das Übel, das ihn befallen hat, vertilgt, wird siegreich sein.« Sie neigte das Haupt. »So stand es einst geschrieben. Im Sand, der die Zeit war und sein wird. Auf immerdar.«
Dann kniete sie sich neben Aurora und den Leichnam Maurice Micklewhites, faltete die Hände, von denen eine tätowiert war, und begann Tränen der Trauer zu vergießen, die so echt waren wie das Lied, das Emily in der Wüstenei gesungen hatte.
Ja, die Welt ist gierig, und die Masken, die wir zu tragen pflegen, erweisen sich manchmal als jene Gesichter, die aus den fließenden Sandkörnern geboren werden, die unsere Augen erst sehend machen.
Emily Laing, die tiefer in die Hölle vorgedrungen war als jemals ein Mensch vor ihr, stand nun vor dem leblosen Körper, der im Sand zu unseren Füßen lag, und wusste, dass es keine Maske war, die das bleiche Gesicht entstellte, sondern der Tod, der sich mit eisiger Hand genommen hatte, was sein war.
»Können wir denn gar nichts tun?«, wollte sie von mir wissen.
Noch bevor ich ihr die Antwort gab, wusste ich, dass sie ihr nicht gefallen würde.
Denn das, womit wir es hier tun hatten, war endgültig.
»Fragen Sie nicht!«
»Nach allem, was wir getan haben, muss es doch einen Weg geben.«
Ich nahm sie bei der Hand.
Sah ihr in die Augen.
Erkannte die Trauer, die unser aller Herzen verdunkelte.
»Bitte, Emily!«
Selbst mir fiel es schwer, die Fassung zu bewahren. Maurice Micklewhite war ein treuer Begleiter gewesen. Für einen Moment nur schloss ich die Augen. Flüchtete mich in die Dunkelheit, die mich allein sein ließ. Nur für einen Moment, der vergangen war, bevor er erst richtig begonnen hatte.
»Was werden wir jetzt tun?«, fragte Emily.
Adam war bei ihr.
Die beiden umarmten sich.
»Wir werden leben«, sagte Lilith.
Und still im Pandaemonium verharrend, nahmen wir Abschied von Maurice Micklewhite, der im Schlund der Welt verschwunden war und niemals mehr wiederkehren würde.
Kapitel 5
Leben
Schon von der Themse aus sieht man die majestätische Kuppel mit dem Laternenturm, der sich gen Himmel reckt. Die beiden Glockentürme, die den westlichen Portikus, der die Bekehrung des Saulus zeigt, und die westliche Vorhalle überragen, sind an diesem Abend beleuchtet.
Hunderte Gläubige strömen aus Richtung des Ludgate Hill die breite Freitreppe hinauf, alle dick eingehüllt in Mäntel und Jacken, die Münder hinter langen Schals verborgen, die Mützen und Hüte tief in die Gesichter gezogen.
Fast sieht es so aus, als gäbe sich der Schneesturm alle Mühe, die Gläubigen davon abzuhalten, an diesem Heiligabend nach St. Pauls zu gelangen.
»Als habe sich gar nichts verändert«, sagt Emily Laing, als sie gemeinsam mit Adam Stewart die Kirche betritt und dort stehen bleibt, wo sie auch schon damals gestanden hat.
»
Wir
haben uns verändert«, antwortet Adam.
Emily weiß, wie Recht er hat.
Seit drei Tagen schon befinden wir uns wieder in der Stadt der Schornsteine, und London wirkt kälter als vor unserer Abreise.
Die uralte Metropole ist wieder sicher geworden. Die Vinshati sind gestorben, und die alte Ordnung beginnt in die Grafschaften zurückzukehren.
»Martin Mushroom ist wieder in Blackheath, wie man munkelt.«
Als Peggotty mir die Neuigkeit mitgeteilt hatte, war ich wenig begeistert gewesen.
»Dann stimmt es also«, hatte ich gegrummelt und mich in mein Arbeitszimmer verzogen. »Al-Vathek hat uns die Wahrheit gesagt.« Eine Frage hatte ich Peggotty vorher aber noch gestellt: »Wie hat Manderley Manor reagiert?«
»Keine Stellungnahme bisher.«
Auch das verhieß nichts Gutes.
Emily und Adam, die unzertrennlich geworden sind, hatten mir von
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