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Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Titel: Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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haben. Sie waren alt, als London jung war. Wie der Scharlachrote Ritter. Sie sind schon immer da gewesen. An dieser Wand.«
    »Aber das sind Graffiti.«
    »Wir wissen wenig über die alten Zeiten.«
    »Das«, murmelte Emily, »ist eine sehr kryptische Antwort.«
    Ich grinste sie an. »Das ist ein Adjektiv, das Sie nie zuvor benutzt haben.«
    »Oh, bitte!«
    »Habe ich etwas Falsches gesagt?«
    Sie zog eine Grimasse.
    »Das«, betonte ich und deutete auf ihr Gesicht, »ist eine kryptische Antwort.«
    Sie musste lachen.
    Laut.
    Und mit einem Mal wurde mir bewusst, wie selten Emily Laing doch lachte.
    Fast im gleichen Augenblick bemerkten wir den Tunnelstreicher.
    Er stand an einer Biegung des Tunnels und sah in unsere Richtung.
    Stand einfach nur da.
    Sagte nichts.
    Regte sich nicht.
    Er trug die traditionelle Kleidung seiner Kaste. Bunte Stoffe, die an mittelalterliche Gaukler und Minnesänger aus Clerkenwell erinnerten. Das lilafarbene Haar türmte sich in verfilzten Büscheln auf dem Kopf, und an den Enden der Büschel baumelten bunte Bändchen, die ihm teilweise bis über die Schulter fielen.
    »Seid gegrüßt«, rief ich ihm entgegen.
    Doch der Tunnelstreicher reagierte nicht.
    Emily trat dicht neben mich und flüsterte: »Da ist niemand.«
    Ich sah sie an.
    »Wie meinen Sie das?«
    »Ich spüre niemanden.«
    Kein Bewusstsein.
    Nichts.
    Beide schauten wir hinüber zu dem Tunnelstreicher, der jetzt mit langsamen Schritten auf uns zugeschlurft kam. Etwas an ihm war nicht richtig.
    Die Sonnenbrille?
    Der seltsame Gang?
    Die unfreundliche Attitüde?
    »Er hat keinen Leuchtstab dabei«, bemerkte Emily.
    Was mir entgangen war.
    Und die Frage aufwarf, wie er denn sehen konnte hier unten.
    Ein leises Stöhnen entrann den spröden Lippen, die bewegungslos zu sein schienen in der schattenhaften Finsternis des zerfurchten Gesichts. »Helft mir«, stöhnte der Tunnelstreicher, und es klang, als sprächen viele Stimmen aus seinem Mund. »Bitte, helft mir.« Er streckte hilfesuchend die Hand aus und torkelte nach vorn.
    Dann stolperte er und stürzte.
    Schnell zog Emily mich von dem Tunnelstreicher fort.
    »Etwas stimmt hier nicht«, warnte sie mich.
    »Ich weiß.«
    Der Tunnelstreicher richtete sich schwerfällig auf, hob den Kopf und sah uns an. Mit beiden Händen stützte er sich auf dem Boden ab.
    Was er sagte, waren keine Worte.
    Er sprach etwas aus, das wuselnd über den Boden lief.
    Das ihm förmlich aus dem Mund fiel.
    »Spinnen!«, schrie Emily.
    Ich trat zwischen das Mädchen und das Ding, das einmal ein Tunnelstreicher aus Hidden Holborn gewesen war. Spinnen fielen zuhauf aus seinem Mund, krabbelten ihm über das Gesicht, über Arme und Oberkörper. Innerhalb weniger Augenblicke war der Mann übersät mit Spinnen. Drahtige Weberknechte und fette Kreuzspinnen, behaarte Kellerspinnen und Schwarze Witwen, nass glänzende Wasserspinnen aus den Kanälen und einige missgeformte Spezies, die nie das Licht der Oberwelt erblickt hatten, geboren in der stinkenden Finsternis der Kloaken.
    »Das ist kein Arachnide«, stellte ich mit zitternder Stimme fest.
    Der Lordkanzler hatte alle Arachniden vernichtet.
    Seit Jahren gab es nur noch Spinnen, die nichts anderes mehr waren als Spinnen. Gewöhnliche Achtbeiner. Die das kollektive Bewusstsein, mithilfe dessen sie sich einst zu menschenähnlichen Gestalten hatten formen können, verloren hatten. In Chelsea hatte es große Kolonien gegeben. Kolonien von wuselnden Arachniden, die den Menschen freundlich gesonnen waren.
    Was man von dem, was sich da vor uns auf dem Boden ausbreitete, nicht zu behaupten vermochte.
    Als dem Tunnelstreicher die Brille von der Nase rutschte, da erkannte Emily, dass sich auch aus den Höhlen, in denen vorher die Augen gewesen waren, hektisch zappelnde Spinnentiere ergossen. Mit ihren schwarzen zuckenden Beinen drängten sie aus dem Körper des Tunnelstreichers und suchten neue Beute. Blutrünstig und gierig, wie es gar nicht ihre Art war, krochen sie zugleich aus Ohren und Nasenlöchern. Eine Flut, die kein Ende zu finden schien.
    »Sie haben ihn bereits aufgefressen«, dachte ich laut.
    Emily schlug panisch nach den Spinnen, die in ihre Richtung sprangen oder sich von der Decke in ihr Haar fallen ließen, und schrie jedes Mal auf, wenn ihre Hand einen der weichen Körper berührte. »Wir sollten hier schleunigst verschwinden.«
    Wogegen ich nicht das Geringste einzuwenden hatte.
    »Treten Sie neben mich!«, rief ich und ergriff ihre Hand. »Und halten Sie

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