Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Titel: Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
Vogels Rochs empfangen. Dies war einfach nur der Weg, den Wanderer, denen die Passage gewährt wurde, gehen mussten. Es war der einzige Weg, die Brücke zu überqueren. Emily spürte die Gedanken des alten Wesens, weil es ihr erlaubt wurde, daran teilzuhaben. Der Goldhawk beruhigte Emily in Gedanken. Schenkte ihr für einen kurzen Augenblick die goldene Melodie seines innersten Selbst.
    Und dann spie er uns aus, wie es der Vögel Art ist.
    Öffnete den Schnabel.
    Würgte ein wenig.
    Und ließ uns auf den steinernen Boden purzeln, was, das sei hier angemerkt, weniger schmerzhaft hätte ausfallen können.
    Immerhin.
    Gefressen hatte er uns nicht.
    »Gibt es denn keinen einfacheren Weg nach Kensington hinein?«
    Emily erhob sich und klopfte sich den Schmutz vom Mantel.
    Damals der Scharlachrote Ritter und nun dies.
    »Wir sind doch angekommen«, antwortete ich.
    Denn war es nicht das, was zählte?
    Wir waren hier.
    Hatten die Brücke überquert.
    Ich griff nach dem Beutel mit den spanischen Dublonen und verstreute sie zu unseren Füßen. Gierig fuhr der Kopf des Vogels Roch nach vorn und pickte eine Dublone nach der anderen auf.
    »Gegessen wird«, murmelte ich, »was schmeckt.«
    Der Goldhawk gurrte.
    Blinzelte uns zum Abschied kurz zu.
    Dann steckte er den Kopf ins Gefieder und brütete weiter sein Ei aus, und wir traten in das Labyrinth von Kensington ein und folgten dem Tunnel, der uns noch tiefer hinab in das Innere der Grafschaft führte. Irgendwo im Erdreich über uns hörten wir die Züge der Central Line und der Hammersmith & City durch die Röhren donnern. Wir passierten Shepherd’s Bush mit seinen seltsamen Pflanzen, die zu berühren wir tunlichst vermieden, und wurden am Notting Hill Gate von zwei Schakalmenschen erwartet.
    »Der Lordkanzler von Kensington«, fauchte der eine, »lässt Euch zu sich bitten.« Emily erkannte unter der dunklen Haut des Menschen den Schakal, dessen Gestalt der Mann allzeit annehmen konnte. Hinter den menschlichen Lippen schimmerten die Lefzen eines Tieres, das eine tödliche Gefahr war für jeden, der sich ihm in den Weg zu stellen wagte. »Seit Stunden schon erwartet er Euer Eintreffen.«
    Der zweite Schakalmensch blieb beim Notting Hill Gate zurück, damit der Wachtposten nicht unbesetzt blieb. »Zu viele Gestalten treiben sich neuerdings hier herum«, teilte er uns mit. »Die Spinnen sind nicht die einzigen Wesen, die es abzuwehren gilt.«
    Was alles andere als ermutigend klang.
    Nun denn.
    Wie ein Zauberschloss in einem Märchen ist der Kristallpalast. Der phänomenal genialische Triumph britischer Ingenieurskunst. Über zwanzig Meter hoch und viermal so lang wie die St.-Pauls-Kathedrale, nahezu sechshundert Meter, und das in einer Höhle, die das Gebilde mühelos zu fassen weiß. Einem überdimensionalen Gewächshaus gleicht der Kristallpalast, der seit über siebzig Jahren hier unten lebt. Vierundachtzigtausend Quadratmeter Glas und tausende gusseiserne Träger und Säulen. Im Inneren eine Welt, die wie die hell erleuchtete Grabstätte eines Pharaos anmutet. Bunte Hieroglyphen auf glatt polierten Steintafeln, die sich Monolithen gleich aus dem Pflanzenmeer erheben, die inmitten künstlich angelegter Teiche stehen oder bereits von dem Grün überwuchert worden sind.
    Dies ist das Reich, das sich der Lordkanzler von Kensington geschaffen hat. Ein Abbild seiner Heimat und wohnlicher als die Pyramide, die sich unterhalb der Royal Albert Hall in die Tiefe erstreckt und durch deren Spiegel einem der Zugang zur Unterwelt gewährt werden kann.
    »Wahrlich, es ist eine lange Zeit vergangen seit unserer letzten Begegnung.« Mit diesen Worten begrüßte uns der Lordkanzler von Kensington in seinem Domizil und verzog die Lefzen zu einem Lächeln, das spitze Zähne und eine schwarze Zunge erkennen ließ. Er schnupperte und nahm Witterung auf. »Miss Laing, das muss ich anmerken, fürchtet sich wohl noch immer vor mir.« Die tiefschwarzen Raubtieraugen musterten das Mädchen aufmerksam. »Wie ich sehe«, fuhr der Lordkanzler fort und betrachtete Emilys gesundes Auge, »besitzt Ihr noch Euer Augenlicht.«
    »Ich hatte Glück«, antwortete Emily.
    »Das sagen sie alle.«
    Er lächelte.
    Wie es ein Schakalgott tut.
    Dann bot er uns einen Platz an.
    Der Lordkanzler von Kensington, den man in Ägypten als Anubis, den Totengott, verehrt hatte, trug einen eleganten dunklen Nadelstreifenanzug. Stiefel aus Schlangenleder, an deren Vorderseiten spitze Krallen herauswuchsen, zierten seine Füße.

Weitere Kostenlose Bücher