Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
unter dem Namen Vogel Roch bekannt war, saß auf dem Ei und brütete aus, was immer bereit war zu schlüpfen.
So riesig war das Ei, dass es die gesamte Brücke vereinnahmte.
»Sehen Sie vielleicht einen Weg?«
»Der an dem Ei vorbeiführt?«
»Ja, was denn sonst?«
Zu meiner Schande musste ich gestehen: »Nein.«
Außerdem war der Goldhawk erwacht.
Güldene Augen beobachteten uns.
»Die Spinnen«, merkte Emily an, »holen auf.«
Ich warf einen Blick zurück.
Als würde uns ein lebendiger Teppich folgen, so sah das Bild, das sich uns bot, aus. Ein Teppich mit unzähligen Beinen und Augen und Mündern.
»Jetzt!«
Als ich die spanischen Dublonen aus meiner Manteltasche zog, da stürzte der Wirbelwind, der uns schützend umgeben hatte, augenblicklich in sich zusammen. Steine, Dreck und Spinnen fielen zu Boden.
Der Teppich näherte sich.
Die güldenen Augen des Vogels weiteten sich.
Was sich da alles auf sein Nest zubewegte, schien ihm gar nicht zu gefallen. Auch Emily schien das boshafte Aufblitzen in den schmalen Augen bemerkt zu haben.
»Edler Roch«, schrie ich und hörte hinter mir das Geräusch tausender wuselnder Leiber, »wir erbitten die Passage über die Brücke und schenken Euch dies!« Flink öffnete ich den Beutel, sodass sich das helle, warme Licht auf den Dublonen brechen konnte.
Der Goldhawk, der seinerzeit Sindbad durch die Lüfte getragen hatte, ließ einen Schrei erschallen, der einst Lichter zum Leuchten und Herzen zum Schmelzen und Seeleute zum Verzweifeln gebracht hatte. Einen klaren, hellen Schrei, der so golden war, wie Töne nur schimmern können.
»Schauen Sie!«
Die Spinnen hatten uns fast erreicht.
Da breitete der Goldhawk seine Schwingen aus.
Wir rannten die Brücke entlang, ohne zu wissen, wie wir an dem Ei vorbeikommen sollten. Hinter uns weitete sich der Teppich von Spinnen aus, und Emily fragte sich benommen, wie viele Spinnen der Körper eines Menschen wohl fassen konnte.
Dann ging alles sehr schnell.
Ohne sich von seinem Platz in dem Nest, das die Brücke zweifelsohne war, zu entfernen, stieß der Goldhawk nach vorn. Sein langer Hals ermöglichte es dem Vogel, nach allen Seiten zu picken, ohne sich von dem Ei erheben zu müssen.
»Passen Sie auf!«, schrie Emily und kreischte.
Denn der spitze, gelbe Schnabel hieb dicht vor meinen Füßen in die Brücke, und große Stücke des Basaltsteins flogen durch die Luft.
»Stehen Sie still!«, forderte ich Emily auf, die meinem Befehl wie angewurzelt Folge leistete.
Der Goldhawk fixierte uns mit seinen goldenen Augen, und nun erkannte Emily, dass die Federn des Tieres so hell waren wie das Licht der wahrhaftigen Sonne.
»Wittgenstein?«
»Ja?«
»Da, schauen Sie!«
Ich tat wie geheißen.
Die Spinnen hockten auf der Brücke, und keiner der Leiber bewegte sich.
»Was hat das zu bedeuten?«
Der Goldhawk schrie erneut auf.
Hell und grell wie das Sonnenlicht über der Wüste.
Dann, mit einem Mal, begannen die Spinnen in Krämpfe zu verfallen. Tausende und abertausende von schwarzen zackigen Beinen zuckten wild und unkontrolliert, scharfe Mandibeln knackten vor Schmerzen, und einst lauernde Fassettenaugen erloschen.
»Es ist das Licht.«
Emily sah mich an.
»Wie in der Geschichte vom Mann, der König sein wollte.«
Emily erinnerte sich.
An die Schilderung der Wesen, die Peachy Carnehan und Daniel Dravot in dem Bergdorf von Kafiristan hatten sterben sehen.
Ein stinkender Ausschlag befiel die Spinnenleiber, und ihre Bewegungen erstarben.
»Da haben wir aber Glück gehabt«, stellte ich erleichtert fest.
»Sind sie tot?«
»Sieht so aus.«
So standen wir da.
Nur einen Augenblick.
Dann stieß der Goldhawk erneut mit seinem Schnabel nieder. Eine orangefarbene Zunge leuchtete sanft in dem Schlund, der sich über uns auftat, und als der Vogel Roch uns auffraß, da verschwand die Welt in tiefster Finsternis.
Kapitel 14
Kristallpalast
»Sind wir jetzt tot?«
Emilys Stimme in der Dunkelheit des Schnabels klang erschreckend resigniert.
»Er hat uns noch nicht geschluckt.«
»Na, toll.« Selbst hier, im Schnabel des riesigen Vogels, konnte sich Emily die Bemerkung nicht verkneifen.
Die warme Zunge des Vogels spürte sie auf ihrem Gesicht, die dunkle Wärme, die tief aus dem Schlund kam. Emilys zitternde Hand lag direkt auf dem feuchten Untergrund, der sich bewegte und sie hin und her schob.
Er will nicht, dachte Emily, dass ich in den Schlund hinabrutsche. Auf eine unbestimmte Weise konnte sie die Gedanken des
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