Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
gewesen. Doch waren wir ahnungslos, und so nahmen die Dinge ihren Lauf. Jene Dinge, die Aurora Fitzrovia und Maurice Micklewhite vom Angesicht der Erde verschwinden und Emily Laing verzweifeln lassen würden.
Kapitel 13
Goldhawk Road
Es gibt alte Gebäude, die tief verwurzelt sind an bestimmten Orten und die niemals die Lust verspürt haben, einen neuen Platz zum Leben zu suchen. Darüber hinaus gibt es Bauwerke, die so rastlos in ihrem Wesen sind, dass sie zu ewiger Wanderschaft verdammt sein mögen. Der Kristallpalast, der einst im Hyde Park geboren worden war, um als Wunderkind der Architektur die Große Weltausstellung von 1851 zu beherbergen, gehört eindeutig zur nahezu verwegenen Sorte von Gebäuden, die allzeit rastlos auf der Suche nach Neuem sind. Der Palast wanderte 1952 mit all seinem Metall und dem glänzenden Glas nach Sydenham, das im Borough von Lewisham gelegen ist. Dort verbrachte er die nächsten Jahre, sah Politiker in seinen Austellungen fremde Staatsmänner empfangen, belauschte Geschäftsleute, wenn sie zwischen den Krikett- und Fussballspielen ihre Verträge abschlossen, lauschte den Konzerten, die in seinen schmucken Gärten stattfanden, und bewunderte die rauschenden Feuerwerke, deren Funkeln sich in dem vielen Glas spiegelte, das in den Nächten wie eine entflammte Haut anmutete. Doch Gebäude wie der Kristallpalast sind von eigenwilliger Natur, und so beschloss das Gebilde aus Metall und Glas gegen Ende des Jahres 1936, dass es an der Zeit sei, eine neue Bleibe zu suchen.
»Vielleicht«, mutmaßte ich, »hat es den aufziehenden Krieg erahnt.« Emily hatte davon gelesen. »Vielleicht wollte der Kristallpalast einfach nur dem Bombenhagel, der Jahre später auf London regnen würde, entgehen.«
Jedenfalls täuschte der Kristallpalast seinen Tod vor und machte die Welt glauben, dass er einer wütenden Feuersbrunst zum Opfer gefallen war.
»Ein geschicktes Gebäude«, merkte ich bewundernd an.
So kam es, dass der Kristallpalast in die uralte Metropole kam.
Wo Circle und District Line zwischen Notting Hill Gate und High Street Kensington verlaufen, befindet sich der Kristallpalast heute und dient dem Lordkanzler dieser Grafschaft als Residenz.
Dorthin wollten Emily und ich, nachdem wir Maurice Micklewhite und Aurora Fitzrovia am nächsten Morgen zum Bahnhof von Elephant & Castle begleitet hatten, von wo aus die beiden den Orient-Express in Richtung Kontinent genommen hatten.
»Hast du Angst?«, hatte Emily ihre Freundin in der Nacht zuvor gefragt.
Fast die ganze Nacht über hatten die Mädchen schweigsam auf der Matratze in Emilys Kammer gesessen und die Regentropfen beobachtet, die langsam und kaum merklich zu Schneeflocken geworden waren und die Fensterscheibe bedeckt hatten, als wollten sie die Freundinnen vor der kalten Welt da draußen verbergen. Nur wenige Worte hatten sie gewechselt. Pläne waren geschmiedet und Absichten bekundet worden und nun blieb den Mädchen nichts anderes übrig, als dem Weg, den das Schicksal für sie bereitgehalten hatte, zu folgen.
»Es passiert alles so schnell.« Aurora Fitzrovia hatte wieder so blass und kränklich gewirkt, dass Emily sie am liebsten gar nicht hätte gehen lassen.
»Aurora ist so anders, irgendwie.« Als uns die Bakerloo Line nordwärts brachte, berichtete mir Emily vom Zustand ihrer Freundin.
»Miss Fitzrovia wüsste gerne, wer sie ist.«
Emily schwieg.
»Das ist doch der Wunsch eines jeden Waisenkindes.«
Keine halbe Stunde zuvor hatten wir Maurice Micklewhite und Aurora Fitzrovia verabschiedet. Die Mädchen hatten einander umarmt und sich gar nicht mehr loslassen wollen. Doch dann war Aurora mit ihrem Mentor in den Orient-Express eingestiegen und der altehrwürdige Zug hatte schnaufend die Reise hinüber zum Kontinent angetreten.
Und während unsere Freunde London verließen, fuhren wir mit der Bakerloo Line nordwärts. In Paddington wechselten wir dann zur Hammersmith & City über, die uns bis zur Goldhawk Road brachte, wo der eigentliche Abstieg in die uralte Metropole begann.
»Es gibt nur zwei Wege«, hatte ich Emily erklärt, »die nach Kensington hineinführen.«
Den einen Weg kannte Emily zur Genüge. Niemals würde sie den Scharlachroten Ritter vergessen. »Dieses Mal bitte keine Gedichte.« Denn das war es, was der steinerne Ritter an der Knightsbridge den Wanderern abverlangte, die freie Passage erbaten.
»Wir nehmen Goldhawk«, sagte ich und hielt ein kleines Säckchen in der Hand, das klimperte, wenn ich es
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