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Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Titel: Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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sind …« Sie beendete den Satz nicht. Starrte stattdessen in die Gesichter der anderen Menschen, die dicht gedrängt und ratlos dastanden. In jedem dieser Gesichter stand die Ahnung geschrieben, dass etwas Furchtbares geschehen war. Es gab Menschen, die nach ihren Angehörigen schrien. Solche, die schimpften. Andere, die still weinten. Jeder versuchte mit dem Verlust, den er zweifelsohne zu beklagen hatte, auf seine Art fertig zu werden. Alle hier Anwesenden hatten geliebte Menschen vom Bahnhof abholen wollen. In ihrer aller Leben war nun etwas zerstört.
    Und Emily musste an die Worte des Shah-Saz denken.
    An all die Geschichten.
    Sie sah Aurora vor sich.
    Und Maurice Micklewhite.
    Wollte weinen.
    Konnte aber nicht.
    Sie stand einfach nur da und sah den Menschen zu und spürte Lady Mina, wie sie auf ihrer Schulter saß und aufmunternd die Schnauze gegen ihren Hals drückte. Und es war ein einziger Gedanke, der sie nicht mehr losließ. Der alles ausdrückte, was um sie herum geschehen war, immer noch geschah und geschehen mochte. Ein Gedanke, so düster und knotig wie die Furcht in den Eingeweiden des CIWF-Mannes. Ein Gedanke, der so fern jeder Hoffnung war, dass Emily nur schweigen konnte.
    Ghulchissar, dachte Emily Laing benommen, ist nach London gekommen.
    Das war alles.
    Das war das Ende.
    Wir verließen Elephant & Castle, so schnell es uns möglich war, nahmen die Norhern Line bis hinauf nach King’s Cross, wo wir durch die weiß gekachelten Tunnel wanderten und die Rolltreppen hinunter zur Circle Line nahmen. Auffallend wenige Passanten strömten an diesem Tag durch die Gänge. Abgestandene heiße Luft vermischte sich mit dem Gestank nach Urin und Abfällen.
    »Was«, wollte Emily jetzt wissen, »haben Sie mit McDiarmid aus Islington besprochen?«
    Vielleicht, dachte ich, war es an der Zeit, sie einzuweihen.
    »McDiarmid«, gab ich ihr zur Antwort, »hat nicht das Vertrauen in Eliza Holland, das wir hatten.«
    Emily starrte mich an.
    »Ich dachte mir, dass Ihnen das nicht gefallen wird.«
    »Was genau hat er Ihnen gesagt?«
    Bevor ich die Frage beantworten konnte, hörten wir die Schritte.
    Ganz nah.
    Erschrocken sah Emily nach hinten.
    Eisenbeschlagene Sohlen auf Betonboden.
    Genau so hatte es sich angehört.
    »Haben Sie es auch gehört?«
    »Ja«, flüsterte ich.
    Lady Mina steckte die Nase in den Wind.
    Ich rieche nichts.
    Als wir die nächste Weggabelung erreichten, schienen die Schritte mit einem Mal aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen.
    »Was, in aller Welt, ist das nur?« Emily sah sich panisch um.
    »Spüren Sie etwas?«
    »Nein, das ist ja das Problem.«
    Zackige Graffiti stierten uns von schmutzigen Wänden an.
    Wo sind nur all die Menschen hin?
    Dann hörten wir den ersten der Schreie.
    Ein hysterisches Kreischen, dem Wahnsinn nahe.
    Der Laut eines Menschen in Todesangst.
    Lang gezogen hallten die Schreie durch den Tunnel vor uns.
    »Fragen Sie jetzt bloß nicht!«, kam ich Emily zuvor.
    Lady Mina spitzte die Ohren.
    Ihre Barthaare stellten sich auf.
    Dann vernahmen wir ein weiteres Geräusch.
    Ein bösartiges Fauchen, das in ein tiefes, kehliges Knurren überging und die Schreie im Bruchteil eines Augenblicks zum Verstummen brachte.
    Als wäre nichts geschehen, trat Stille ein.
    Kein Klappern von Schuhen aus dem Tunnel hinter uns.
    Kein einziger Laut aus dem Tunnel vor uns.
    Nur unser eigener unregelmäßiger Atem, der laut die Stille zu zerschneiden schien.
    »Wir müssen in Bewegung bleiben.«
    Ratte und Mädchen stimmten dem zu.
    So zwangen wir uns dazu, den Weg fortzusetzen.
    Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
    Um das Tunnelsystem verlassen zu können, mussten wir den bisher eingeschlagenen Weg bis zur nächsten Gabelung weiterverfolgen. Den Weg hinunter bis zur Circle Line zu nehmen, schien keinem von uns mehr ratsam zu sein.
    »Wir sollten die U-Bahn verlassen«, schlug Emily vor.
    »Einverstanden.«
    Vor uns knickte der Tunnel mit einem Mal ab, beschrieb einen harten Bogen nach rechts. Hinter dieser Kurve lag ein Knotenpunkt, von dem aus Rolltreppen sowohl zu den tieferen Regionen der anderen beiden Linien als auch hinauf zur Oberfläche führten.
    Da vernahmen wir das Schmatzen.
    Laut.
    Feucht.
    Gierig.
    Der Ursprung des Geräusches lag direkt vor uns, hinter der Krümmung des Tunnels versteckt, keine zehn Meter entfernt.
    »Wittgenstein?«
    »Treten Sie hinter mich!«
    Zweimal musste ich Emily nicht bitten.
    Bei den durch den Tunnel hallenden Klängen dachte selbst das

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