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Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith

Titel: Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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solcher Aufregung gesehen. Man konnte die Panik förmlich riechen.
    Nicht einmal die Katzenfleischfrauen boten ihre Ware feil, und die Grasfresser aus Brixton hatten anscheinend das Weite gesucht.
    Schaffner und Angestellte der London Regional Transport redeten auf die Leute ein. Die Metropolitan Police hatte ganze Bereiche des Bahnhofs abgeriegelt.
    Der riesige bunte Elefant, der aus dem Mauerwerk der alten Befestigungsanlage von Lambeth Marsh herausragt und der ein Gebäude ist, in dem sich anrüchige Etablissements von jener Art befinden, die eines Bahnhofs würdig sind, war grell und hell erleuchtet, aber dennoch geschlossen. Die mit Glitzerkram besetzten Stoßzähne ragten funkelnd über die Köpfe der aufgeregt tuschelnden Passanten hinweg.
    »Was geht hier vor?« Die Gerüchte ignorierend, sprach ich einen Schaffner der CIWL an, der untätig und nervös neben einer der Rolltreppen stand.
    Nahezu erschrocken fragte er: »Wer sind Sie?«
    Bahnpersonal!
    »Wittgenstein«, gab ich umgeduldig zur Antwort und wiederholte meine Frage.
    »Der Orient-Express«, antwortete der Mann, »ist bereits eingetroffen.«
    Ich schaute auf die Uhr. »Eine Stunde zu früh?«
    »Er befindet sich jetzt auf einem der Sidings«, stammelte der CIWL-Mann. »Die Metropolitan war der Ansicht, dass wir … in Anbetracht der Umstände … nunja, es sei nicht ratsam, dass Menschen sähen, was …« Mittlerweile begann sich die Nervosität des Mannes in Verbindung mit der Aufregung der Menschenmassen auf Emily und mich zu übertragen.
    Mit einer Stimme, die so ruhig wie möglich klang, wiederholte ich meine Frage zum dritten Mal. »Was, guter Mann, ist hier unten geschehen?«
    Er rollte mit den Augen, holte tief Luft und murmelte: »Wir wissen es nicht.«
    Das war genug.
    Ich packte ihn am Kragen. »Bringen Sie es einfach über die Lippen«, bat ich ihn.
    »Ich darf nichts verlauten lassen«, sagte er. »Auf höchsten Befehl.«
    Was sollte denn das nun wieder heißen?
    »Auf wessen Befehl?«
    Meinte er die Metropolitan?
    Die Garde?
    Den Senat?
    Die Regentin?
    »Mein Herr, Sie müssen sich gedulden, wie es all die anderen Fahrgäste auch tun.«
    Emily sah mich an.
    Lady Mina kringelte aufgeregt den Schwanz.
    Ich senkte die Stimme und flüsterte: »Ich bitte Sie hiermit wirklich zum letzten Mal.« Ganz nah kam ich dem Gesicht des CIWL-Mannes und hauchte ihm förmlich ins Ohr: »Es gibt andere Wege, wenn Sie den Mund nicht aufbekommen.«
    »Die Dienstvorschrift«, berief sich der CIWL-Mann auf das Regelwerk, das die Bibel für jeden Bediensteten hier unten zu sein schien, »ist eindeutig.«
    Ich zog ein Gesicht und nickte Emily kurz zu.
    »Tun Sie es einfach«, befahl ich ihr.
    Und meine Schutzbefohle sprang mühelos in Gedanken in den Raum, der das Bewusstsein des Schaffners war. Sie konzentrierte sich auf die Schatten und griff nach der Furcht des Mannes, die ein schwarzes, knotiges Ding war, und sah die Bilder, die der CIWL-Mann zu sehen gezwungen gewesen war und die ihn plagten und noch Wochen nach diesem Tag heimsuchen würden.
    »Die Wagen waren alle verlassen.«
    Es war Emilys Stimme.
    Denn Emily sah alles.
    Wagen mit blutverschmierten Fenstern. Verwüstete Abteile. Verstreute Gegenstände auf den Böden. Dinge, die jemandem gehört hatten und niemandem mehr gehören würden. Angehörige der Metropolitan Police, die Überreste untersuchten, die aussahen wie verbranntes Fleisch. Bedienstete der Bahngesellschaft, die Abteilnummern mit Fahrgastverzeichnissen verglichen. Listen abhakten. Sie spürte Furcht, Ekel, Ohnmacht. Sah die Lokomotive. Den Zugführer. Festgebunden am Steuerpult. Hörte Schreie.
    »Es sieht aus wie in Waterstone Junction«, erklärte mir Emily. Sie musste schlucken, bevor sie sagte: »Nur schlimmer.«
    Dann radierte sie die Bilder aus dem Bewusstsein des Schaffners. An nichts mehr würde sich der Mann erinnern können, wenn Emily seinen Verstand verlassen hatte. Nur dastehen würde er und blinzeln und sich fragen, was er denn auf dem Bahnsteig verloren habe.
    Denn das war es, was Emily bewirken konnte. Das war die Gabe, die sie besaß. Ihr Trickster-Geschick. Sie konnte in fremde Köpfe eindringen und sie aufräumen oder sie in völligem Durcheinander versinken lassen.
    Sie atmete tief durch.
    Tauchte aus der Bilderflut auf.
    Setzte die Bruchstücke zusammen.
    »Die Vinshati sind im Zug gewesen.«
    Mehr gab es nicht dazu zu sagen.
    Tränen traten ihr in die Augen.
    »Wenn Aurora und Master Micklewhite in dem Zug gewesen

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