Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
die sich auf höchst mysteriöse Vorfälle in London, von denen wir noch nie gehört hatten, bezogen, waren nicht einfach zu ertragen. Ich beobachtete Tibor Vanko, der mir gegenübersaß und geflissentlich bemüht war, nicht allzu offensichtlich in meine Richtung zu schauen.
»Und für heute Abend«, hörte ich den Professor schließlich verkünden, »habe ich eine Überraschung für Sie.«
Also verbrachten Tom und ich den Abend damit, der Einladung des Professors Folge zu leisten, der uns gemeinsam mit seiner Gemahlin einen Einblick ins Nachtleben von Budapest gewährte.
Trotz der starken Müdigkeit, die mittlerweile auch meinem Bruder leichte Augenringe beschert hatte, ließen wir uns von dem überaus lebendigen Ehepaar durch die hell erleuchteten Straßen der Donaumetropole führen. Das Abendessen nahmen wir im Hotel Hungária zu traditioneller Geigenmusik und Kerzenschein zu uns. Danach folgte ein Besuch in der beeindruckenden Staatsoper in der Andrássy utca. Der Professor erklärte uns, dass die Oper, welche das Leben des Nationalhelden Bánk Bán zum Inhalt habe, sowohl musikalisch als auch inhaltlich jeden Patrioten im Land zu Tränen rührte. In der Tat kam es während der Arie des Helden im letzten Akt zu stehenden Ovationen, und viele der Besucher (die zweifelsohne durchweg der Oberschicht angehörten) konnten feucht glänzende Augen vorweisen. Zum ersten Mal seit unserer Ankunft wurde mir bewusst, wie sehr die Menschen die Unabhängigkeit vom ehemaligen Okkupanten Österreich zu schätzen wussten, die Freiheit, die sie all die Jahre herbeigesehnt hatten.
Nach dem Opernbesuch fuhren wir mit dem Wagen des Professors zur festlich erleuchteten Burg auf dem Gellértberg auf der anderen Flussseite, wo wir einen kurzen Spaziergang unternahmen, der uns bis zur Sankt-StephansKirche führte. Spätestens dort wäre ich am liebsten zu Boden gesunken, um beim Anblick des Sternenhimmels auf dem Kopfsteinpflaster einzuschlafen. Den Worten aus dem Mund des Professors, die unaufhörlich in die Nacht flossen, war kaum mehr zu folgen. Schlimmer noch war seine Gattin, die des Englischen kaum mächtig war, es dafür aber liebte, auf Französisch wahllos dahingestreute Anekdoten aus ihrer Jugendzeit in Paris darzubieten.
Dennoch gaben wir uns höflichst Mühe, unseren Gastgebern den Respekt zu zollen, den sie verdienten. Als wir gegen zwei Uhr nachts in unser Hotel zurückkehrten, gelang es mir nurmehr mit letzter Kraft, Schuhe und Kleider abzustreifen und halb tot ins Bett zu fallen. Ich sank fast augenblicklich in einen tiefen, traumlosen Schlaf, aus dem mich erst meines Bruders Klopfen an der Zimmertür des Morgens weckte.
Nach einem ausgiebigen Frühstück für Tom und einigen Tassen heißen Kaffees und wenigen mürrischen Bissen in ein Stück trockenes Weißbrot mit Konfitüre für mich, einer kurzen Fahrt mit der fast leeren Straßenbahn zum Calvin tér und halbschlafenen Gedanken über den weiteren Verlauf des Tages standen wir dann vor dem Portal des Nationalmuseums, wo uns ein gut gelaunter Tibor Vanko erwartete.
Keine zehn Minuten später hatten wir mit der Arbeit begonnen. Die labyrinthische Bibliothek des Museums befand sich in einer riesigen Halle, deren hohe Fenster die morgendliche Sonne zwischen den langen Reihen schwerer hölzerner Regalwände hereinließen. Staub wirbelte golden in den Lichtstrahlen umher. Die älteren Bücher, meist dicke Einbände, waren überwiegend in Latein verfasst. Erst die Buchrücken der neueren Bände (die seit dem 16. Jahrhundert geschrieben und gedruckt worden waren) ließen verschnörkelte Titel in ungarischer und deutscher Sprache erkennen. Tom begann damit, einen Sammelband über die Geschichte des Magyarenreiches und der angrenzenden Länder zu durchforsten, ich selbst stöberte mit Tibor Vankos Unterstützung in einem Werk über die Mythologie Osteuropas.
Dies war die Art von Arbeit, der wir in den folgenden Tagen nachgingen. Wir fraßen uns förmlich durch Schriften verschiedenster Ursprünge: Reiseberichte römischer Feldherren, Niederschriften von Mönchen und Minnesängern, Bücher zu Fragen des Glaubens, Beschreibungen politischer und gesellschaftlicher Geschehnisse im Osteuropa der vergangenen zweitausend Jahre, klerikale Abhandlunge über Hexen und andere Schattengestalten, Dokumentationen von Hexenprozessen.
Tom wurde als Erster fündig, und dies bereits am zweiten Tag unserer Arbeit im Museum. »Im 13. Jahrhundert«, teilte er mir mit, als ich mit Tibor
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