Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
zudem einen, der sich mit der Historie auskannte. Tibor Vanko studierte Geschichte in Wien und arbeitete in der vorlesungsfreien Zeit in seiner Heimatstadt zum einen im elterlichen Betrieb (einem, wie er uns mitteilte, Gemüsegeschäft in der Dohány utca) und zum anderen im Nationalmuseum. Nebenbei verdiente er sich einige Forinth als gelegentlicher Fremdenführer und Dolmetscher für reiche ausländische Besucher. Die Kenntnisse der englischen und französischen Sprache hatte er sich größtenteils durch das Lesen von Romanen angeeignet und durch die Aushilfstätigkeit als Kellner im Café Reitter, einem der Treffpunkte der intellektuellen Elite des Landes.
Professor Sándor Molnár, so erfuhren wir während der Fahrt in der rumpelnden Straßenbahn, hatte in den letzten Jahren der K.u.k.-Ära seine Magister an den Universitäten von Wien, Prag und Budapest gemacht und seit nunmehr fast zehn Jahren einen Lehrauftrag beim österreichischen Institut für Völkerkunde inne. »Er ist einer der führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der Mythologien der osteuropäischen Länder.«
Entgegen unseren Erwartungen entsprach Sándor Molnár jedoch in keiner Weise dem klassischen Bild vom vergeistigten, fortwährend einem Gedanken nachhängenden und etwas verwirrt agierenden Gelehrten. Wenige Augenblicke nachdem wir die Eingangshalle des Museums betreten und beim Portier unseren Besuch angemeldet hatten, erschien ein großer wohlbeleibter Mann, dessen gerötete Wangen darauf schließen ließen, dass bereits das zügige Hinunterlaufen der Treppe für ihn eine Anstrengung bedeutete. Der Mann trug einen hellen Anzug mit Weste und halb aufgezupfter Krawatte. Er benutzte einen eleganten Gehstock, der einsam auf dem Marmorboden seinen Takt klapperte, und bevor seine massige vollbärtige Erscheinung uns erreichte, schneuzte er sich lautstark in ein Taschentuch.
»Da haben wir also unseren Besuch aus dem Land der Pharaonen«, begrüßte er uns mit lauter Stimme, die in der weiten Eingangshalle dröhnte. Die rote Schnapsnase leuchtete fröhlich in dem runden Gesicht. Zu unserem Begleiter gewandt, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu: »Und ein hübscher Besuch noch obendrein, nicht wahr, Herr Vanko?«
Ehe wir zu einer Entgegnung fähig waren, hatte der Professor bereits unsere Hände ergriffen und schüttelte sie freudig. »Miss Holland, Mr. Holland«, brummte er. »Es ist mir immer eine Freude, Gäste aus der Ferne zu empfangen.« Sein Atem ging schwer. »Womit kann ich Ihnen zu Diensten sein?«
Ganz der reservierte Engländer, entgegenete Tom steif: »Wir würden gern Ihr Haus für wenige Tage in Anspruch nehmen.«
»Sie können sich meiner Hilfe sicher sein«, antwortete Molnár, und seine hellblauen Augen funkelten freundlich. »Carter hat mir bereits telegrafiert.« Er lachte laut auf. »Doch vorher bitte ich Sie, mir bei einer Tasse Kaffee mit Schlagobers Gesellschaft zu leisten. Ich bin erst gestern aus Wien zurückgekehrt und befinde mich somit in der glücklichen Situation, Ihnen frische Sachertorte anbieten zu können.« Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte er sich Bewegung. »Hier entlang, bitte«, brummte er, und uns blieb nichts anderes übrig, als ihm durch die geräumigen Hallen zu folgen, vorbei an Gemälden mit Szenen aus der Vergangenheit des Magyarenreiches und mit folkloristischen Gegenständen gefüllten Vitrinen.
Am Ende strandeten wir in einem abgelegenen Wintergarten voller Palmen, der an eine Halle mit restaurierten Awarenzelten angrenzte und vollends im Stil der »Belle Époque« eingerichtet war. Allesamt nahmen wir in einer kleinen Sitzgruppe Platz, während der Professor es sich nicht nehmen ließ, selbst Hand anzulegen und uns höchstpersönlich zu bewirten.
Während wir dort bei Kaffee mit Schlag und dem köstlichen Kuchen zusammensaßen, berichteten wir Professor Molnár von den Ausgrabungen in Ägypten und unserem Vorhaben. Nachdem wir unsere Geschichte beendet hatten, versicherte er uns ungehinderten Zugang zu allen Quellen, die sich im Besitz des Museums befanden, und stellte unzählige Fragen.
Während des Gespräches ergriff eine lähmende Müdigkeit zunehmend Besitz von mir, und ich war ständig darum bemüht, ein Gähnen zu unterdrücken. Ich verspürte plötzlich das unbändige Verlangen, ins Hotel zurückzukehren und einfach nur zu schlafen. Meinem Bruder schien es ähnlich zu ergehen. Des Professors ungezügelte Energie und Begeisterungsfähigkeit und seine etwas seltsamen Fragen,
Weitere Kostenlose Bücher