Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
wollten wir unsere Nachforschungen in der Hautpstadt Ungarns beginnen. Wir hatten Herrn László Geiger, dessen Kanzlei im Zentrum von Budapest geschäftliche Beziehungen zur Handelsgesellschaft meines Vaters unterhielt, kontaktiert und ihn gebeten, zwei Zimmer in einem der Hotels zu reservieren. Die ungarische Nationalbibliothek und das Nationalmuseum würden unsere ersten Anlaufstellen sein.
Um die Spur Vatheks aufzunehmen, würden wir uns mit Geschichte und Mythologie des Landes vertraut machen müssen, und dies würde für uns endlose Stunden in den Museen und Bibliotheken bedeuten, wo wir die Nasen in Büchern vergraben würden, um Hinweise zu finden, die Rückschlüsse auf Vatheks Schicksal erlauben würden. Und all das unter nicht unerheblichem Zeitdruck, denn die vor mehr als einem Jahr in Versailles geschlossenen Friedensverträge trugen zwar zur Stabilität in den vom Krieg zerrütteten Regionen Europas bei, jedoch war es höchst fraglich, wie lange diese neue Ordnung Bestand haben würde.
Diese und unzählige weitere Gedanken schossen mir während des Fluges durch den Kopf. Das kleine runde Fenster zu meiner Linken gab den Blick frei auf das strahlend klare Blau des mediterranen Himmels, welches sich mit der Farbe des Meeres vermischte, sodass die Grenze zwischen Wasser und Himmel kaum auszumachen war. Tom war im Sitz zu meiner Rechten eingenickt. Ich betrachtete meinen Bruder eine Zeit lang, wie er so dasaß, den Kopf nach hinten gelehnt und das Gesicht verborgen von dem Hut, den er sich tief ins Gesicht gezogen hatte; das ruhige und gleichmäßige Auf und Ab seiner Brust und die zur Seite gerutschte Krawatte. Ihn an meiner Seite zu wissen, war ein gutes Gefühl.
Während des Fluges verfasste ich einige Zeilen an meinen Verlobten, der den Neuigkeiten von meiner Weiterreise nach Ungarn vermutlich mit einem Ausdruck kultiviert unterdrückter wütender Ablehnung begegnen würde. Ich berichtete ihm in Kürze von unseren bisherigen Funden im Tal der Könige, der Geschichte Vatheks und den Absichten, die wir mit unserer Reise nach Budapest verfolgten. Anschließend bekundete ich ihm meine tiefe Liebe und die erwartungsvolle Freude, bald schon nach Hause zurückkehren und mich von ihm umarmen lassen zu können. Dann zerknüllte ich das Papier. Ich erinnerte mich der kleinen Bemerkungen Arthurs, die mich darauf hingewiesen hatten, dass er in meiner Arbeit kaum mehr zu sehen schien als eine Beschäftigung, mit der sich eine intelligente Frau die Zeit vertreiben konnte (und die damit die gleiche Bedeutung zugesprochen bekam wie nachmittägliche Teegesellschaften und Einkaufsbummel).
In dieser Stimmung erreichte ich schließlich Venedig, von dem ich kaum etwas zu sehen bekam. Fast umgehend bestiegen wird den Nachtexpress nach Budapest, so sehr drängte die Zeit. Die sechsstündige Fahrt in die ungarische Metropole (unterbrochen nur von einem etwas längeren Aufenthalt in Zagreb) verlief ohne Zwischenfälle.
Wir hatten kaum Mitreisende und infolgedessen ein geräumiges Abteil für uns allein. Ich nutzte die Zeit, um mit einer Reiselektüre, welche mir Howard Carter ans Herz gelegt hatte, zu beginnen. »Es wird Sie an Karnak erinnern«, hatte er gesagt und mir mit einem Lächeln »The Jewel of Seven Stars« von Abraham Stoker überreicht. Tom verbrachte die letzte Etappe der Reise damit, den Bericht über unsere Erlebnisse in seinem Notizbuch zu vervollständigen und sich von meiner Stimme in den Schlaf wiegen zu lassen (meist sang ich leise und fast flüsternd alte englische und französische Weihnachtslieder für ihn – vermutlich war dies meine Art, mich für die Geschichten, die Tom mir als Kind zum Einschlafen erzählt hatte, zu revanchieren).
Schließlich kündigte nach einer langen Fahrt durch die nächtlichen Regionen des westlichen Osteuropas das lang gezogene Pfeifen der Lokomotive die Ankunft im Hauptbahnhof der ungarischen Hauptstadt an. Mit einem verkaterten Blinzeln gaben wir uns den neuen Eindrücken hin: dem Kuppelbau aus rußgeschwärztem Stahl und Glas, der den Bahnhof überragte; dem Stimmengewirr in der uns fremden Sprache; den umherwuselnden Reisenden und Kofferträgern und dem Bild des kleinen rundlichen Mannes Mitte fünfzig, der zielsicher durch die Menschenmenge auf uns zusteuerte und sich als Herr László Geiger zu erkennen gab. Geiger durfte das vornehme und exaltierte Gehabe eines Anwalts sein Eigen nennen und schien jenem Menschenschlag anzugehören, dem weder Tom noch ich selbst
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