Die uralte Metropole Bd. 2 - Lilith
Überraschung eine Neuigkeit, die uns zu dieser späten Stunde noch einmal erwachen ließ.
Darin stand geschrieben: »Zitat aus Emerson wie folgt –
(…) bekam Bruder Pheidias die Schriften des al-Vathek als Dank für seine Gastfreundlichkeit im Jahre der Ungläubigen 641 überreicht, wonach al-Vathek zurückkehrte in seine neue Heimat (…)
– einzige Erwähnung Vatheks – Schriften nicht in Emerson-Skript enthalten – hochachtungsvoll – Claude Riché.«
Nachdem wir den Text gelesen hatten, saßen wir einige Augenblicke schweigend da.
»Was habe ich Ihnen versprochen?«, sagte der Professor. »Ein neues Rätsel.«
»Wenn ich den Text richtig verstehe«, begann ich vorsichtig, »dann bedeutet das, dass dieser Mönch die Schriften von Vathek
persönlich
als Geschenk erhalten hat. Im Jahre 641 nach Christus.«
»Über zwei Jahrhunderte bevor Ibn Fadlan in dem Kloster Rast machte«, ergänzte Tom.
»Und über zweitausend Jahre
nachdem
Vathek aus Ägypten geflohen war.«
Der Professor ließ ein zufriedenes Grinsen erkennen. »Der Text lässt keine Zweifel offen. Folgen wir Ibn Fadlans Bericht, so war es Vathek persönlich, der die Gastfreundlichkeit des griechischen Klosters in Anspruch genommen und sich mit einem Teil seiner Reisebeschreibung erkenntlich gezeigt hat.«
Keiner von uns wusste etwas darauf zu entgegnen.
Es war Tom, der nach einer Weile das Schweigen brach und die einzige Frage stellte, die in jenem Moment von Bedeutung war: »Und wie bringt uns dieses Wissen weiter?«
Einzig der Professor, die Hände im Schoß gefaltet und eine unerschütterliche Ruhe ausstrahlend, ließ sich zu einer Antwort hinreißen. Mit einem seine Mundwinkel umspielenden süffisanten Grinsen ließ er mit energischer Stimme verlauten: »Gar nicht.«
Unsere Nachforschungen waren damit an einem Wendepunkt angelangt. Mit dem während unserer ersten Tage erworbenen Wissen waren wir noch immer keinen Schritt weitergekommen. In einem Telegramm aus Karnak ermutigte uns Howard Carter, die Suche dennoch fortzusetzen. Des eingedenk setzten wir unsere Arbeit fort, jedoch ohne dass sich der erwünschte Erfolg einstellte. Die Tage verstrichen quälend langsam zwischen den Reihen staubiger Regale, und der anfängliche Enthusiasmus begann kläglich dahinzusiechen.
Immer öfter suchten wir die Abwechslung inmitten des Getümmels der Stadt, erkundeten Budapest gemeinsam oder im Alleingang. Während mein Bruder es bevorzugte, die Metropole systematisch unter Zuhilfenahme diverser Straßenkarten zu durchstreifen, wollte ich mich nurmehr treiben lassen. Meist zog ich los, nachdem ich einige Stunden des Vormittags mit der Arbeit im Museum verbracht hatte. Ich hatte nie ein Ziel, verfolgte keine bestimmte Absicht, genoss es, den Zufällen zu folgen. Einmal traf ich eine alte Frau, die, in Lumpen gekleidet, altes Holz von den Schutthalden in den Seitenstraßen sammelte und auf einen Handkarren lud, um damit in einer schmalen, stinkenden Gasse zu verschwinden. Ich folgte der Frau heimlich einige Gassen entlang und fand mich schließlich in einem heruntergekommenen Teil der Stadt wieder, wo hustende Kinder mit laufenden Nasen und fettigen Haaren mit kleinen Stöckchen in einem Hundekadaver herumstocherten, wo nach Knoblauch und Tabak riechende Männer mir böswillige Blicke zukommen ließen, wo brackiges Wasser und Exkremente an den Gehwegen entlangflossen. Dies war nicht mehr das elegante Paris des Ostens. Dies war die Stadt der einfachen Menschen, die Welt der unteren Klassen, die an manchen Stellen einem Albtraum von Dickens entsprungen zu sein schien. Jedoch war ich begierig darauf, auch diesen Teil der Stadt kennen zu lernen. Nach einigen dieser Ausflüge achtete ich sorgsamer darauf, nicht allzu auffällig zu erscheinen. Ich besorgte mir in einem kleinen Geschäft neben dem Museum einige Kleidungsstücke aus grobem Stoff und versteckte meine sauber frisierten Haare unter einem unscheinbaren Kopftuch. So vermied ich es, belästigt und angestarrt zu werden. Ich wurde zu einem Teil der Masse, einer gewöhnlichen jungen Frau, der niemand übermäßige Beachtung schenkte.
Später dann sprach ich mit Tibor, der sich während unseres Aufenthalts in der Metropole schnell zu einem treuen Freund entwickelte hatte, über meine Erlebnisse. Während unserer mittlerweile regelmäßigen Spaziergänge wusste er von Kindern zu berichten, die sich in Diebesbanden zusammenschlossen, von Bettlern, die sich selbst verstümmelten, um noch Mitleid
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