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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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verwüstete ihn wie ein Sturm, der sich durch einen Fensterspalt Zugang verschafft hat. Sie tat es, weil sie es tun musste. Sie schlug den Polizisten in dem grauen Mantel mit all der Kraft ihres Bewusstseins, und ehe er sich versah, rann ihm dunkles Blut aus der Nase.
    Mit einem Stöhnen sank der große Mann in sich zusammen.
    Tristan Marlowe, der auf dem feuchten Kopfsteinpflaster kniete und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den linken Arm festhielt, lebte noch. Emily hätte am liebsten laut aufgeschrien vor Freude. Gesungen, getanzt. Er lebte, und sie war nicht allein in dieser elenden Stadt!
    Da zerfetzte der Schuss die Nacht.
    Laut.
    Krachend.
    Wie Donner, der das Ende ankündigt.
    Emily sah zuerst in Tristans glashelle Augen, die sich vor Entsetzen weiteten, als sie erkannten, was geschehen war. Dann suchte des Mädchens Verstand nach dem Grund für die Hitze, die sie so plötzlich aufzuzehren begann.
    Eine Hitze wie die Hölle selbst.
    In ihren Eingeweiden, als fräßen Tiere sie von innen auf.
    Es war ein Schmerz, der seltsam fremd war und gar nicht zu ihr zu gehören schien. Unecht wirkte das alles, ja. Wie ein Traum in einem Traum in einem Traum.
    Dann sah Emily den zweiten Polizisten an.
    Neben seinem toten Kollegen stand er und grinste sie an. Die Mündung der Waffe in seiner Hand spie dünnen Rauch aus. Nein, ein Traum war dies nicht. Nie und nimmer.
    Emily spürte, wie ihre Beine nachgaben.
    Sie die Kraft verließ.
    Ihr Körper sackte in sich zusammen.
    Sie kniete auf dem Kopfsteinpflaster in dieser verlassenen Gasse mitten in der fremden Stadt und fragte sich, wie dies alles wohl enden würde. Sie musste an ihre kleine Schwester denken, an Aurora, Neil, vieles mehr. Sie begann zu weinen und nach Luft zu schnappen.
    Die Hände, die sie auf den Bauch gepresst hielt, waren voller Blut.
    »Oh, verdammt«, heulte sie, und die bitteren Tränen in ihren Augen ließen die Welt verschwimmen.
    Es war ihr eigenes Blut.
    Das da aus ihrem Bauch sprudelte.
    Wo die Kugel sich in sie hineingebohrt und das, was in ihr war, zerfetzt hatte.
    Sie hustete.
    Spuckte Blut auf die Steine.
    Es dampfte in der Eiseskälte.
    Wenn das Leben einen verlässt, dachte Emily verwirrt, dann fühlt sich das wohl genau so an. Denn das Leben ist weich und warm. Pulsierend. Wie Musik, die man nicht verklingen lassen darf.
    Das alles sang ihr im Kopf herum.
    Wirr.
    Ungeordnet.
    Dann erst hörte sie den panischen Schrei. »Emily!« Tristan Marlowe warf den Beutel, den er in der Hand gehalten hatte, auf das Kopfsteinpflaster zwischen sich und dem Polizisten.
    Eine dichte Rauchwolke stieg auf.
    Rot glühend wie die Hölle selbst.
    Wie ihr Schmerz.
    Dann zog er die lange Klinge aus dem Gehstock und sprang in den Rauch hinein.
    Emily hörte ein Geräusch, das unmissverständlich war. Begleitet von einem Schrei.
    Und Tristan war wieder bei ihr.
    »Emily!« Er kniete neben ihr, stammelte ihren Namen, ganz außer Atem. Niemals zuvor hatte das Mädchen das Gesicht des Jungen so verzweifelt gesehen. Und wenngleich sie die Welt nur noch wie durch einen Schleier wahrzunehmen vermochte, so sah sie doch den Schmerz, der in seinen Augen lebte.
    Die Angst, dass etwas durch und durch Schlimmes geschehen konnte.
    Die Furcht davor, sie, Emily Laing, verlieren zu können.
    »Wir dürfen keine Zeit verlieren«, hörte sie ihn sagen. Eine Stimme, weit, weit fort.
    Das Mädchen spürte, wie schnelle Finger ihr den Mantel aufknöpften.
    »Vertrauen Sie mir.«
    Nicht einmal mehr nicken konnte sie.
    Nur atmen.
    Mühsam.
    Keuchend.
    Sie schloss die Augen, und in der Dunkelheit träumte sie davon, wie es sein würde zu sterben. Tristan Marlowe sprach die ganze Zeit über zu ihr. Doch dann verschwand auch seine Stimme, und was blieb, war finstere Nacht und das Gefühl, das Leben auszuatmen.
    Den Pöbel und die Polizei in die Irre zu führen stellte kein Problem dar. In den Gassen Prags kannte ich mich noch aus, als sei ich erst gestern zum letzten Mal hier gewesen. Ich führte meine Verfolger eine halbe Stunde lang an der Nase herum, schlug jenseits des Altstädter Rings einige Haken und tauchte dann in der Nähe des Hauptbahnhofs unter, indem ich die Metro hinüber zur Kleinseite am anderen Flussufer nahm. Dort brach ich eine Abstellkammer auf und verbrachte den Rest der Nacht zwischen dem Gerümpel der Stadtwerke. In der Stille dieser Kammer, die sich wenigstens neben einer Heizungsanlage befand, kam ich für nur wenige Stunden zur Ruhe, um meinen Gedanken

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