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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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den scharfen Scherben aus Glas, auf denen sie seitdem gehen musste, immer wenn sie an ihn dachte. »Niemals haben wir gemeinsam Musik gemacht.« Wie sehr sie das doch bedauerte. Jetzt, da Adam in Paris war und sie hier, kam ihr die Distanz zwischen ihnen noch um ein Vielfaches größer vor. Ja, sie vermisste ihn noch immer.
    »Die Vergangenheit«, sagte Tristan nur, »sollte vergangen bleiben.« Er sah sie nicht an, als er das sagte. »Denn jedes Mal, wenn man sie erweckt, dann tötet sie ein Stückchen mehr von einem.«
    Emily hielt die Geige in der Hand. Sie legte sie an, strich mit dem Bogen darüber und entlockte dem Instrument, das so lange Zeit geschwiegen haben musste, einen tiefen und traurigen Ton, der die Stille im Laden küsste und sie einen Augenblick lang die Scherben vergessen ließ, auf denen sie seit Tagen schon ging.
    Sie lauschte dem Ton, den sie aus ihrem Innersten geholt und der Geige geschenkt hatte.
    Sah all die Bilder.
    Und stellte die Geige fort, bevor die Tränen dem Ton Gesellschaft zu leisten vermochten.
    Wäre sie ein normales Mädchen mit einem normalen Leben in einer normalen Stadt gewesen, dann hätte sie ihren Vater vielleicht darum gebeten, die Geige kaufen zu dürfen. Doch sie war kein normales Mädchen, und die Lage, in der sie sich gerade befand, war weit davon entfernt, eine normale Lage zu sein. Die Geige wäre nur hinderlich bei dem, was sie zu tun gedachte. Nein, sie würde das Instrument nicht erwerben. Nicht jetzt, jedenfalls. Vielleicht später, wenn sich die Dinge zum Guten entwickelt hätten.
    Wehmütig betrachtete sie die Geige, die wieder an ihrem angestammten Platz lag. Sie mochte das Instrument. Mochte es, weil es Kratzer und Gebrauchsspuren hatte und nicht perfekt war.
    Irgendwie, dachte sie, ist diese Geige so, wie ich es auch bin.
    Der Papiermundmann beobachtete sie, und der Ton hatte ein Lächeln auf seinen Mund gezeichnet. Tristan Marlowe, der sie mit einem Blick, den Emily nicht zu erklären vermochte, von der Seite betrachtete, sagte etwas in der fremden Sprache zu dem Ladenbesitzer, und der Papiermundmann erwiderte etwas, das wie eine Zustimmung klang.
    Dann ging Tristan Marlowe zum Fenster und beobachtete die Straße.
    »Was haben Sie ihm gesagt?«, fragte Emily ihn.
    Zuerst erwiderte er nichts darauf, doch dann sagte er: »Fragen Sie nicht!« Er sah sie an und lächelte nicht einmal dabei. Nein, ganz ernst wirkte er. So, als habe er gerade etwas getan, das ihm das Herz brechen ließ. Emily wusste nicht, warum sie gerade diesen Gedanken hatte, aber es war genau das, was ihr in den Sinn kam, als sie in die hellblauen Augen blickte, die wieder so kühl und abweisend wirkten wie eh und je.
    Tristan konzentrierte sich auf die Straße, suchte in beiden Richtungen nach grauen Männern.
    Stille sang ihr Lied im Laden.
    Der Papiermundmann kritzelte weiterhin auf seinen Zeichenblock.
    Nach einer Weile drehte Tristan Marlowe sich zu Emily um. »Ich denke, dass wir es nun wagen können, unseren Weg fortzusetzen. Wir müssen vorsichtig sein.« Er hatte den Knauf seines Gehstocks in der Hand und prüfte kurz die Klinge, die sich in dem Stock verbarg.
    Erneut sagte er etwas zu dem Papiermundmann, was Emily nicht verstand.
    Beide schauten das Mädchen an, und Emily wurde das Gefühl nicht los, dass die beiden über sie geredet hatten. Kurz flammte Misstrauen in ihr auf, und dafür schämte sie sich fast augenblicklich.
    Trotzdem!
    Hatte Tristan Marlowe ihr nicht dazu geraten, ihm nicht zu trauen? Die Welt ist eine Lügnerin, dachte Emily still und leise, und die meisten Menschen, die in ihr leben, sind es wohl auch.
    War Tristan Marlowe ein Lügner?
    Sie wusste es nicht.
    Es sah so aus, als führe er etwas im Schilde. Ja, sie wurde das Gefühl nicht los, dass er etwas zu dem Papiermundmann gesagt hatte, was sie nicht erfahren sollte.
    Doch was konnte das sein?
    Sie beschloss, dass sie vorerst nicht mehr darüber nachdenken wollte. Es führte zu nichts. Sie entsann sich der Lektionen, in denen ich ihr beigebracht hatte, dass nur der Augenblick zählt. Und wenn es Schwierigkeiten zu bewältigen gab, dann waren nur die Schwierigkeiten des Augenblicks von Belang.
    Man musste sich auf die wesentlichen Dinge konzentrieren.
    Seinen Blick nicht abschweifen lassen.
    Emily seufzte.
    Mit einer höflichen Verbeugung verabschiedete sich Tristan Marlowe von dem Papiermundmann, und Emily tat es ihm gleich. Einen letzten Blick noch warf sie auf die Geige, und zum Abschied berührte sie das

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