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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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durch die engen Gänge schlurften. »Jeder von uns hier unten, müsst ihr wissen, sieht etwas anderes. Wir sehen, was unsere Gefährten niemals sehen werden. Wir leben jeder in unserer eigenen Welt und doch zusammen. Auch das kann die Hölle sein, auch das.«
    Aurora war sich nicht sicher, ob sie wirklich verstand, was er ihnen sagen wollte. »Sie meinen, dass all die anderen Menschen gar nicht wissen, dass Sie da sind?«
    »Ja, so oder so ähnlich ist es wohl. Ich kann mit niemandem reden.« Wie zum Beweis trat er auf einen Mann mit Murmelaugen zu, schnippte mit dem Finger vor seinem Gesicht herum und stellte ihm einige Fragen: »Wie heißt du, Freund? Seit wann bist du hier? Wohin gehst du?« Er wandte sich ihnen wieder zu. »Seht ihr, nicht die geringste Reaktion. Für ihn bin ich gar nicht vorhanden. Er lebt in einer Welt, die sein Limbus ist.«
    »Aber Sie sehen uns doch und können auch mit uns reden«, gab Neil zu bedenken.
    »Stimmt.«
    »Und?«
    »Du meinst, ob ich eine Erklärung dafür habe?«
    Neil nickte schnell.
    »Nein, die habe ich nicht. Muss ich auch gar nicht. Die Dinge sind so, wie sie sind. Wozu brauche ich eine Erklärung? Ändern würde die auch nichts. Dies hier ist meine Welt, und sie ist, wie sie ist.«
    »Aber was sehen all die Menschen?«
    »Jeder sieht seine eigene Hölle. Und zu jeder Hölle gibt es eine Geschichte. Na ja, das habe ich mir jedenfalls zurechtgesponnen.« Er lachte laut auf. »Es redet ja niemand mit mir, was soll ich machen.« Eine Rolltreppe, die stillstand, führte weiter nach unten.
    »Warum sind diese Menschen hier?« Natürlich hatte Aurora schon von dem Ort namens Limbus gehört. Doch hier zu sein, in dieser seltsamen Stadt, war etwas völlig anderes.
    »Sie haben Dinge getan, die man nicht tun sollte. Schlimme Dinge. Mord, Selbstmord. Manche sind wohl schon hier, seit sie Kinder waren. Niemand hat sie gewollt. Ich habe einige von ihnen wachsen sehen. Die Zeit tut das, was sie will, hier unten. Ganz kleine Kerlchen sind sie gewesen, doch heute sind sie groß und stark und … nun ja, immer noch stumm, was soll’s also?«
    Neil und Aurora wechselten besorgte Blicke.
    Sie folgten Sixpence die Rolltreppe hinab. Unten leuchtete schummriges Licht.
    »Um auf die Taubenwesen zurückzukommen.« Noch immer warf Neil Blicke zurück, weil er sichergehen wollte, dass die Kreaturen ihnen nicht gefolgt waren.
    Sixpence winkte ab. »Langsam, langsam, jetzt bin ich an der Reihe. Schon so lange habe ich mit niemandem mehr reden können. Ehrlich gesagt, ich habe nicht die geringste Ahnung, weshalb ich mit euch reden kann.« Er grinste, irgendwie fröhlich. »Wir sollten dort unten eine Rast einlegen. Und reden. Ich bin neugierig, denn es kommen nicht oft Gäste wie ihr in die Tunnel.«
    Aurora achtete darauf, sich nicht zu weit von Neil zu entfernen. Herrje, vor wenigen Minuten noch hatte sie gedacht, gemeinsam mit ihm sterben zu müssen. Nun aber dachte sie unentwegt daran, dass sie nicht vergessen durfte, mit ihm gemeinsam leben zu wollen. Wenn dies alles hinter ihnen liegen würde, dann stünde dieser Zukunft nichts mehr im Wege. Dann würde sie ihn fragen, wenn er es nicht zuerst tun würde. Ja, Neil war ihr Leben. Bereits zum zweiten Mal war er ihr bis in die Hölle gefolgt. Was konnte sich ein Mädchen sonst noch wünschen?
    Am Fuße der Rolltreppe befand sich der Bahnsteig. Ein Zug stand reglos da.
    »Sie fahren nicht«, erklärte Sixpence. »Keine Ahnung, warum.«
    Sie sind nur Kulisse, dachte Aurora und fragte sich zugleich, was das wohl zu bedeuten hatte.
    »Kann man in andere Stadtteile gehen?« Neil sah sich um.
    Neben der Rolltreppe lag ein zusammengerollter Schlafsack der Royal Air Force.
    »Das ist mein Lager«, erklärte Sixpence, dem Neils Blick aufgefallen war.
    »Hier leben Sie?«
    »Ich kann schlafen. Muss niemals essen. So ist das hier unten.«
    »Und die Taubenwesen?«
    »Die Taubenwesen, wie ihr beiden sie nennt, sind die uralten Limbuskinder. Grausam sind sie, listenreich und heimtückisch. Das, was ihr gesehen habt, waren missgestaltete Taubenwesen, doch glaubt mir, sie können noch ganz andere Formen annehmen.«
    »Ich weiß«, bekannte Aurora und erzählte knapp von der Begegnung mit den Limbuskindern in Pairidaezas Kathedrale, vor sechs Jahren. »Wie Insekten haben sie damals ausgesehen.«
    »Hier sind sie Taubenwesen«, erklärte Sixpence. Er breitete den Schlafsack so aus, dass sie alle darauf Platz nehmen konnten. »Einst, glaube ich, waren sie Engel.

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