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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Etwas hat sie aus dem Himmel vertrieben. Vielleicht hat man sie auch umgebracht. Womöglich haben sie sich selbst getötet, wer weiß? Was auch immer, sie sind jetzt hier und machen einem, verzeiht diesen Ausdruck, das Leben zur Hölle.« Er musste lachen über seine Wortwahl. »Sie achten darauf, dass sich keiner zu lange draußen herumtreibt. Sie mögen das nicht. Fragt mich nicht, warum.«
    »Für Sie ist es auch London?«
    »Ja, für mich ist es London.«
    »Schon immer gewesen?«
    »Seit ich hier bin. Seltsam nur, dass es für euch auch London ist. Die Stadt der Schornsteine ist groß, und es wäre doch zu vermuten, dass London für mehr als nur eine Person die Hölle ist. Doch bisher habe ich noch niemanden getroffen. Wie gesagt, ich habe keine Erklärung für das, was hier vorgeht.«
    »Werden Sie uns Ihre Geschichte vortragen?«, fragte Aurora.
    »Ihr wollt sie hören?«
    Aurora mochte den Mann, der alt oder jung sein mochte. Warum, das konnte sie selbst nicht sagen. Es war einfach so.
    »Ich war ein Waisenjunge«, begann er. »Ein ungeschicktes Kind in einem Waisenhaus in Rotherhithe.« Er seufzte, schwieg einen Augenblick lang und fuhr dann mit leiser Stimme fort: »Ich verbrühte der Katze des Hausmeisters das Fell und wurde dafür bestraft. Schläge mit dem Rohrstock gab es. Dummerweise traf er dabei aus Versehen ein Mädchen ins Gesicht. Ein Mädchen, das ich danach nie wieder gesehen habe.« Traurig senkte er den Blick, und die Münzen in seinem Gesicht schimmerten in dem Dämmerlicht. »Sie hat ein Auge verloren. Und ich wurde fortgebracht. Ich habe vergessen, was dann geschehen ist. Auch an Namen kann ich mich kaum noch erinnern, nicht mal an meinen eigenen. Sie verschwinden, wenn man längere Zeit hier unten lebt. Auch das ist die Hölle. Erinnern kann ich mich nur noch daran, wie ich durch den Regen geirrt bin und nicht mehr wusste, wohin. Etwas, das mir gehört hatte, war zerbrochen. Etwas tief in mir drinnen. Nicht einmal weinen konnte ich, aber der Gedanke an das arme Mädchen, das sein Auge verloren hatte, verfolgte mich. Es war, als hätte man mir die Seele geraubt oder die Unschuld oder was auch immer. Am Ende stieg ich genau hier in die U-Bahn hinab, und als die Jubilee Line einfuhr, da bin ich über die Bahnsteigkante getreten.« Er schwieg. Erinnerte sich. »Da waren Lichter, so hell, und Schreie der Passanten. Schmerzen, Bedauern, ganz kurz nur. Dann war ich bereits hier, in diesem seltsamen London. Charing Cross hatte sich verändert. Es war auf einmal zu dieser Welt hier geworden, und als ich hinausgehen wollte, da sah ich zum ersten Mal den blutroten Himmel.« Er schüttelte den Kopf. »Nicht einmal meinen Namen weiß ich mehr. Nicht einmal den.«
    Aurora hatte Tränen in den Augen. Erschrocken war sie den Worten des Mannes gefolgt.
    »Es gibt keine Zufälle«, flüsterte sie so leise, dass niemand es hörte.
    »Große Schuld hatte ich auf mich geladen, und als ich dann vor den Zug gesprungen bin, da hat sich …« Er schluckte. »Man tilgt keine Schuld, indem man sich das Leben nimmt, das weiß ich jetzt. Ich habe meinen Namen vergessen, und weil ich nicht mehr weiß, wer ich bin, muss ich nun hier bleiben.«
    »Wir kennen deinen Namen.«
    Erstaunt sah er sie mit den Münzenaugen an. »Woher willst du meinen Namen kennen?«
    Aurora sagte es ihm.
    So viele Erinnerungen erwachten zum Leben. All die Gespräche mit Emily im Waisenhaus. Das, was damals in Rotherhithe geschehen war, kannte sie nur aus den Erzählungen ihrer Freundin. Alles war wieder da. Die Namen: Reverend Dombey, Mr. Meeks, Miss Philbrick, Madame Snowhitepink. Ein Teddy namens D.B. Laing. Die Zeit, die ein Feuer war, in dem man verbrennen konnte. Eliza Holland, die von einem Dorf namens Aghiresu berichtet hatte, wo sie einem Kind das Leben gerettet hatte. Einem Jungen, der nach London gebracht worden war. Nach Rotherhithe, wo sich der Kreis schloss.
    »Es gibt keine Zufälle«, murmelte Aurora erneut und vermisste Emily so sehr, dass es wehtat.
    Sixpence hörte ihr zu.
    Aurora erzählte ihm nicht alles. Nur das, was mit dem Waisenhaus zu tun hatte.
    Sie wollte ihm seinen Namen sagen, doch Sixpence winkte ab. »Sag ihn mir nicht.« Abwehrend hob er beide Hände und schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt, bitte!«
    »Warum?«
    »Ich könnte euch nicht mehr helfen.«
    »Das verstehe ich nicht, warum …«
    »Wenn ich weiß, wer ich bin, dann darf ich fort von hier.«
    »Wer sagt das?«
    »Ich weiß einfach, dass es so ist.« Er

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