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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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einsame Instrument sogar. Die Geige sollte ihr im Gedächtnis bleiben. Ja, die Geige und der lang gezogene dunkle Ton, den sie gespielt hatte, jener Ton, der für sich genommen eine wunderbare Melodie gewesen war, zu der sie am liebsten laut gesungen hätte.
    Emily fegte den Gedanken beiseite.
    Nein, sie musste sich jetzt auf ihr Ziel konzentrieren. Auf das, weswegen sie nach Prag gekommen waren.
    Und so folgte sie Tristan Marlowe in die winterliche Straße hinaus, und sie schlugen den Weg hinüber zur Josefstadt ein, wo sie Hinweise auf einen Tempel zu finden hofften, dessen Inhalt der Stadt der Schornsteine den Frieden zurückbringen würde.

Kapitel 8
Sixpence
    Der Mann, der mit einem kräftigen Ruck das Gitter zur Seite zog, besaß keine Augen und konnte das Mädchen und den Jungen dennoch sehen. Wie das sein konnte? Aurora hatte keine Ahnung. Es war so, wie es war. Dies war der Limbus. Zwei alte, bereits mit Grünspan befleckte Münzen steckten in dem hageren Gesicht anstelle der Augen. Ein silbernes Five-Pence-Stück dort, wo das rechte Auge hätte sein müssen, und ein Penny dort, wo einmal das linke Auge gewesen war. »Beeilt euch!« Die Stimme war staubig und knirschte wie Sand in einem Getriebe. Greises Haar stand ihm struppig vom Kopf ab.
    Magere und dennoch recht kräftige Hände packten das Mädchen und den Jungen und zogen sie schnell hinter das Gitter, bevor die wütenden Taubenwesen ihnen Übles anzutun vermochten. Lautstark rastete das Gitter wieder im Schloss ein, und eine Flut von Taubenwesen prallte mit einem wütenden Knurren dagegen. Einige der Wesen fielen zu Boden, rappelten sich auf und versuchten erneut einen Angriff gegen das Gitter. Ohne Erfolg.
    »Sie kommen nur selten nach unten«, sagte der Mann mit den unterschiedlich großen Münzen im Gesicht. »Wenn sie hungrig und auf neue Träume aus sind oder wenn sie jemanden bestrafen wollen.« Der Mann kratzte sich am Kopf und betrachtete die gegen das Gitter prallenden Taubenwesen. »Sie werden gleich damit aufhören. Es ist immer das Gleiche.«
    »Wer sind Sie?« Aurora war bewusst, dass sie sich eigentlich hätte bedanken müssen, doch schoss die Frage aus ihr heraus. Eben noch hatte sie gedacht, an der Seite Neils sterben zu müssen, und nun befanden sie sich beide in der Düsternis der U-Bahn-Station Charing Cross.
    »Nennt mich einfach nur Sixpence«, sagte er und vergewisserte sich, dass das Gitter dem Ansturm der tobsüchtigen Taubenwesen standhielt. Aurora und Neil stellten sich ihrerseits vor.
    »Sie haben uns das Leben gerettet.«
    »Ihr beiden seid freiwillig im Limbus.« Es war eine Feststellung.
    »Woher wissen Sie das?«
    Er deutete auf ihre Augen. »Die Augen, sagt man, sind ein Spiegel der Seele.«
    Aurora musste an Dr. Dariusz denken und an das Spiegelkabinett in seinem Büro.
    »Diejenigen, die im Limbus leben, haben ihre Seele verspielt. Deswegen sind wir hier. Das ist unser Los.«
    Jetzt erst bemerkte Aurora, dass die Düsternis voller Menschen war. In ihren Gesichtern prangten Münzen, Spiegelscherben, Papierfetzen, flache Steine. Sogar Menschen, die zwei Uhren anstelle ihrer Augen im Gesicht trugen, sah sie. Es gab Gestalten mit Porzellanscherben statt Augen und solche, denen bunte Knöpfe oder Stofffetzen aufgenäht worden waren. Irgendwie teilnahmslos schlurften diese Menschen durch die Tunnel in einer Dunkelheit, an die sich Auroras Augen langsam gewöhnten. Es war keine Nachtschwärze, nur Dunkelheit, hier und da durchsetzt von rötlichen Schimmern, die eine Welt aus scherenschnittartigen Konturen schufen.
    »Wer sind die Taubenwesen?«
    Sixpence prüfte sorgfältig das Gitter. Noch immer schnappten Schnäbel durch die Lücken. »Sie sind die wahren Kinder des Limbus.«
    Neil ließ die Taubenwesen nicht aus den Augen. »Wächter?«
    »Das und noch mehr.« Der Mann seufzte. »Es ist eine lange Geschichte, und wenn ich ehrlich bin, dann muss ich zugeben, dass auch ich nicht alles weiß. Obwohl ich schon sehr lange hier lebe.« Er zwinkerte ihnen zu, wobei die Münzen auf und ab wippten. »Nun ja, wenn man dies leben nennen mag.« Er führte die beiden in den Bahnhof hinein. »Folgt mir, hier entlang.« Treppenstufen ging es hinab, und Neil stellte fest, dass die U-Bahn-Station derjenigen im wirklichen London sehr ähnlich war. »Der Limbus ist eine seltsame Gegend.« Der Mann, der alt sein mochte oder auch nicht, redete unentwegt, während die anderen Menschen tatenlos herumstanden oder mit langsamen Schritten ziellos

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