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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Art.
    Mit mir.
    Der Kräutertee, den Dorian Steerforth und Rabbi Hillel mir verabreicht hatten, ließ mich erst am späten Nachmittag des folgenden Tages erwachen. Dass Emily Laing und Tristan Marlowe in der Synagoge eingetroffen waren, erfreute und überraschte mich zutiefst.
    Wir beschlossen, bald aufzubrechen, doch vorher führte ich ein langes Gespräch mit Tristan Marlowe. Magister McDiarmid, das sahen wir beide so, war nicht länger vertrauenswürdig.
    Und dann nahm mich meine Schutzbefohlene zur Seite und offenbarte mir ihr Problem.
    »Sie müssen sich nicht schuldig fühlen.«
    Sie starrte mich an. »Das ist alles?«
    »Ja.«
    »Sonst haben Sie keinen Rat für mich?«
    »Fragen Sie lieber nicht.«
    Emily ging auf und ab und schimpfte vor sich hin. Ob ich selbst der Gegenstand des Selbstgespräches war oder jemand anders, war nicht klar ersichtlich.
    »Miss Laing!«
    Sie blieb stehen.
    »Da war ein Feuerwerk in Ihren Augen, wenn Master Stewart bei Ihnen war. Es war da, auch wenn Sie nur an ihn gedacht haben und er fort war. Es ist immer noch da, wenn Sie nur an ihn denken.« Ich trat vor sie und sah ein Mädchen, das noch so klein war wie damals, als ich es in der Tottenham Court Road aufgegabelt und mit nach Hause genommen hatte. Jemanden, der erwachsen sein wollte und es doch nicht ganz war. »Das Feuerwerk, Miss Emily Laing, tanzt auch in Ihrem Mondsteinauge. Denn Master Stewart hat als Erster das Feuerwerk in Ihrem Mondsteinauge entdeckt. Und seitdem ist es da. Sichtbar für jeden, der es sehen will.«
    Sie senkte den Blick, kaute nervös an ihrer Lippe.
    »Ich bin nicht gut darin, Ratschläge zu erteilen. Entscheidungen, Miss Laing, muss jeder für sich selbst treffen.«
    »Es gibt keine Zufälle, was?«
    »Nein.«
    Eine Strähne des roten Haars fiel über ihr Mondsteinauge, das schön war und immer zu ihr gehören würde.
    »Danke«, sagte sie.
    »Wofür?«
    »Für alles.«
    Dieses Kind!
    »Lassen Sie uns gehen«, schlug ich vor, »die anderen warten schon.«
    So traten wir in die anbrechende Nacht hinaus. Das Schloss, das wir von hier aus sehen konnten, erstrahlte hell im Licht der Laternen. Fern, verschneit, und doch so nah.
    Emily hatte nie zuvor etwas Derartiges gesehen. Selbst in der Mauer, die den Jüdischen Friedhof umgab, befanden sich die Überreste gotischer Grabsteine. Die Schatten tanzten in der Dämmerung zwischen den spitzen Grabsteinen, die wie abgebrochene Zähne aus dem Boden ragten, so dicht an dicht, dass man nicht einmal richtige Wege entdecken konnte, die zwischen den vielen Gräbern hindurchführten.
    Die kahlen Gerippe windschiefer Bäume reckten sich den Wolken entgegen, die Tierfiguren auf den Gräbern stierten jeden Besucher mit grausigen Fratzen an, die Bilder der Toten, die in die Steine eingelassen waren, gemahnten an die Menschen, die einst in diesem Viertel gelebt hatten und gestorben waren.
    »Schon sehr lange«, erklärte uns Dorian Steerforth, der uns zum Schloss führen wollte, »wird hier niemand mehr beigesetzt.«
    Etwas, dachte Emily, stimmte hier nicht.
    Sie erinnerte sich noch gut daran, wie Dorian Steerforth sich in London verhalten hatte. Selbstsicher und voller Tatendrang war er gewesen, als er sie vor dem Schwarm der Hymenopteren gerettet hatte. Auch überheblich, ja. Und sich in jeder Sekunde seiner Ausstrahlung bewusst. Doch jetzt wirkte er, wenngleich äußerlich noch immer ruhig und gelassen, wie von einer inneren Unruhe erfüllt, die man ihm zwar so kaum anmerkte, die er aber vor ihr als Trickster nicht gänzlich verbergen konnte. Das Mädchen hatte bemerkt, dass er sich sehr lange von Rabbi Schemajah Hillel verabschiedet hatte, und jetzt, da sie ihn so traurig über den Friedhof trotten sah, da kam es ihr vor, als könne dies sogar ein Abschied für immer gewesen sein. Es war nur ein Gedanke, ja, aber einer, den sie fortwährend denken musste. All die Jahre, die vergangen waren, hatte sie geglaubt, den Aphroditen zu hassen, doch nun musste sie feststellen, dass er nur ein Kind seines eigenen Schicksals war, das nicht einmal in seiner Hand gelegen hatte.
    »Wir werden durch das Grab des Mordechai Kara in die Unterwelt hinabsteigen«, erklärte Dorian Steerforth. »Von dort aus führt ein geheimer Tunnel bis hinein ins Schloss.« Er vergewisserte sich unserer Aufmerksamkeit. »Das sagt man jedenfalls.«
    »Klingt simpel«, entfuhr es Marlowe.
    »Ja, fast schon zu einfach«, fügte ich hinzu.
    »Warten Sie es ab«, konterte Steerforth. »Es gibt Wesen dort

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