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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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den grauen Himmel der Mala’ak ha-Mawet zu gelangen. Jemand, der fähig war, Bilder zu empfangen, nicht mehr.
    Sie gab sich wirklich alle Mühe, nicht zuzuhören, doch streiften auch Melodien ihr Bewusstsein. Stufe um Stufe. Jüdische Gesänge, Lachen, Weinen, Kriegsgetöse.
    Nein, dagegen sträubte sie sich mit aller Macht.
    Sie wollte all diese Dinge nicht wahrnehmen.
    Niemals!
    Leises Jammern erfüllte die Finsternis, und dann, als die Treppe in einen ebenerdig verlaufenden Tunnel überging, da registrierte sie etwas, das nicht mehr lebendig und doch nicht ganz tot war. Etwas, das Gedanken denken konnte und doch mehr Instinkt als Verstand war. Es flog ihr so zu, durch die Dunkelheit, war irgendwo in den Tunneln, die noch vor ihr lagen. Es war kalt und es war böse. Es wuselte aus den Ecken und Winkeln, kroch hinter den Stützbalken hervor und sammelte sich auf dem schlammigen Boden zu einem Teppich aus hungrigen Leibern.
    »Sie kommen«, hörte Emily den Aphroditen sagen.
    Wir befanden uns jetzt unmittelbar unterhalb der Moldau. Brackiges Wasser tropfte von der Decke herab, rann über die Wände und hatte bereits Rinnen in das Mauerwerk aus Lehm und Stein gefressen. Die Luft roch nach Schimmel und Regenwürmern und Wesen, die auf der Suche nach Nahrung blind durch die Dunkelheit krochen.
    Trotz der großen brennenden Laternen, die wir mit uns trugen, schien die Helligkeit mit einem Mal etwas weniger hell zu werden. Gerade so, als dämpfe jemand das Licht der Laternen. Als fräße jemand das, was das Licht entstehen ließ.
    »Überlasst sie mir«, sagte Dorian Steerforth.
    Wir folgten seinem Blick.
    Dann sahen wir sie.
    Alraun-Asseln.
    Sie kamen überall aus den Löchern gekrochen. Fingergroße gedrungene Leiber mit hunderten von winzigen Beinchen. Ihre unzähligen Kokons spannten sich zwischen den faulig riechenden Ausläufern der uralten Alraunen, die hier zwischen den Knochen und Schädeln und modrigen Fetzen alten Stoffs, der einmal Kleidung gewesen war, wuchsen.
    Jetzt witterten die Alraun-Asseln offenbar reiche Beute.
    »Wir müssen die Laternen löschen«, schlug ich vor.
    Das Licht war es, das sie geweckt hatte.
    Denn wo Licht war, da gab es auch Schatten.
    Und die Schatten waren das, wovon sie sich ernährten.
    Und wenn sie an dem Schatten eines Menschen nagten, dann schwand auch immer ein Teil des Menschen selbst. Derjenige Teil nämlich, der den Schatten geworfen hatte.
    Tristan Marlowe, der am Ende unserer kleinen Gruppe ging, rückte schnell zu den anderen auf.
    »Wittgenstein!«, rief Emily.
    Ich sah an mir herab.
    Zwei der Alraun-Asseln krabbelten über den schlammigen Boden, und als sie in meinen Kernschatten hineinliefen, da spürte ich ihre winzigen Mandibeln wie feine Nadelstiche am Körper. Es war, als bisse etwas winzige Stücke aus meiner Haut heraus. Und es fühlte sich an, als würde man ganz langsam durchsichtig werden.
    Dorian Steerforth war gleich zur Stelle und zermalmte die Asseln mit den Stiefelabsätzen. »Ihr müsst zum Schloss laufen. Es gibt keinen anderen Weg als diesen.«
    »Aber was wird aus Ihnen werden?« fragte Emily. »Wir werden Sie nicht bei diesen Dingern zurücklassen.«
    Wenn sie auch keine besonders angenehmen Erinnerungen mit dem Aphroditen verband, so wünschte sie ihm dennoch nicht das Schicksal, das anzunehmen er wohl bereit war.
    »Doch, Miss Laing, das werden Sie. Sie werden laufen.«
    »Das ist nicht richtig.«
    »Es kümmert niemanden, was richtig oder falsch ist. Nur das Ergebnis zählt.«
    »Das ist Blödsinn.«
    »Ich werde hier bleiben.« Er hielt seine Laterne hoch. »Gehen Sie alle und löschen Sie schnell Ihre Lichter. Denn wenn es keine Lichter mehr gibt, dann verschwinden auch die Schatten und mit ihnen die Alraun-Asseln.«
    »Das ist Unsinn.«
    Ich hatte mit angehört, was er gesagt hatte. »Er hat Recht«, sagte ich schnell.
    Die hungrigen Alraun-Asseln bedeckten mit ihren gedrungenen Leibern den ganzen Boden, und es sah aus, als erwachte der graue Schlamm zu geiferndem Leben.
    Auch Emily spürte, wie die Kraft aus ihrem Körper schwand, wo die Alraun-Asseln an ihren Schatten nagten.
    »Ich werde hier bleiben«, schrie Dorian Steerforth die anderen an. »Ich werde das Licht bei mir behalten, und wenn Sie alle in den Tunnel laufen, dann sollte Ihnen meine Lichtquelle als Orientierung dienen. Wenn Sie dann weit genug in die Dunkelheit hineingelaufen sind, werden Ihre Körper keinerlei Schatten mehr werfen.«
    Er schaute Emily an, und in diesem Moment

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