Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen
unten, die sich uns in den Weg stellen könnten. In den Schriften wird davon berichtet. Aber das ist auch alles, was wir über sie wissen.«
»Wesen?« Emily hasste es, wenn sie derart vage informiert wurde.
Dorian Steerforth blieb vor einem Grabstein stehen, der die Steine links und rechts um ein Vielfaches überragte. In sich verschlungene Hände und Rebstöcke mit vielen Trauben zierten den Stein, dazu das Bildnis eines bärtigen Mannes mit hohem Hut. »Rabbi Kara war ein wirklich berühmter Kabbalist. Man sagt, dass er den Tunnel angelegt und später dann verlangt habe, dass sein Grab über dem Eingang errichtet werden solle.« Er kniete sich vor den Grabstein und berührte das Gesicht des Kabbalisten, spreizte die Finger, sodass sie beide Augen berührten. Dann drückte er zu, und die Finger stießen in die Augen hinein. Etwas rumpelte tief in dem massiven Stein, und dann schoben sich die Grabsteine zu beiden Seiten des Kabbalistengrabes beiseite, und ein tiefschwarzer Schlund gähnte uns an.
Ein Schlund, in dessen Tiefe eine Treppe führte.
»Es gibt Wesen dort unten, sagt man, die sich von Schatten ernähren«, warnte uns der Aphrodit. »Wenn wir ihnen begegnen, dann überlasst sie mir. Geht weiter, was auch immer geschieht.«
Emily hatte es geahnt.
Etwas war nicht richtig.
Sie konnte es in jedem seiner Worte spüren.
Vorhin schon hatte er ihnen eingeschärft, was zu tun sei, wenn sie das Schloss verlassen wollten.
»Aber werden Sie denn nicht bei uns sein?«, hatte Marlowe ihn gefragt.
»Man weiß nie, was passiert.« Dann hatte er uns von dem Spiegellabyrinth im Pet?rín-Park berichtet. »Dort werden Sie einen Weg finden, der Sie schnell in die Stadt der Schornsteine führen wird.«
»Woher wissen Sie das alles?«
»Sie sind neugierig, Wittgenstein.«
»War ich schon immer. Nun?«
»Es wird jemand auf sie warten. Bei den Spiegeln.«
Er hatte Dr. Dariusz erwähnt und das seltsame Sanatorium in Moorgate. Und dazu einen Namen, den wir lange nicht mehr vernommen hatten. Doch so, wie es aussah, kehrten manche Menschen von den Totgeglaubten zurück, ehe man sich’s versah.
»Verlieren wir keine Zeit«, drängte Dorian nun.
Dem war nichts hinzuzufügen.
Ich machte den Anfang, zündete die mitgebrachte Blechlaterne an und folgte Dorian Steerforth in den Schlund der Erde. Die anderen taten es mir gleich, und so stiegen wir in die Tiefen hinab, die unliebsame Überraschungen für uns bereithalten konnten.
»Es ist kalt hier unten«, murmelte Emily.
Und Marlowe entgegnete schnippisch: »Was haben Sie erwartet?«
Ich hüllte mich in Schweigen.
Dorian Steerforth sowieso.
Die Treppe jedenfalls führte stetig in die Tiefe. Schmale Stufen waren es, die jemand in Stein geschlagen hatte.
Modrige Gebeine waren in den Wänden zu erkennen. Knochen und Schädel, dicht an dicht.
»Das jüdische Viertel«, erklärte uns Dorian Steerforth, »war immer schon sehr klein. Man musste die Toten übereinander schichten. Bis zu zwölf Lagen sind es. Oben gibt es derzeit etwa zwölftausend Grabsteine, und es dürften in dieser Gegend mehr als hunderttausend Verstorbene in der Erde ruhen.«
Emily fand den Gedanken, von so vielen Knochen und Schädeln umgeben zu sein, alles andere als angenehm.
Sie spürte die Vergangenheit der Verstorbenen in der schattigen Kälte. Sie wehte ihr fast schon ins Gesicht, und sie hoffte inständig, dass die Bilder an ihr vorüberflogen. Es waren Bilder, die durchsichtig und voller Leid waren. Blitzlichtartige Eindrücke aus so vielen Leben, die längst im Staub der Zeit dem Vergessen anheimgefallen waren, streiften ihre Sinne, und sie musste sich zusammenreißen, um nicht laut loszuschreien.
Eigenartig kalt war es hier unten in den Katakomben, die eine eigene Welt unter dem Friedhof waren. Eine Kälte war es, die sie tief in ihrem Innersten spürte. Die sie berührte, wo das Herz schlug.
Tief hinab in ein Labyrinth aus Höhlen und Gängen führte die Treppe. Es gab hier Kavernen und enge Stollen, die irgendjemand vor langer Zeit einmal angelegt haben musste.
Es war eine Welt der Stille, des Schweigens und der toten Gedanken, die wie blinde Schmetterlinge in der Finsternis gegen die erdigen Wände prallten und ihren Weg ins Licht suchten.
Das Licht, das nie den Weg nach unten fand.
Oder fast nie.
Emily Laing jedenfalls wusste, dass nicht sie dieses Licht war.
Nein, sie war nur ein Mädchen, das in diese eiskalte Welt der Finsternis hinabstieg, weil es der einzige Weg war, um in
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