Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
wie es der Sphinxe Art ist, nur unter der Bedingung bereit, den Weg zu preiszugeben, wenn sich einer der Gaukler von ihr auffressen lässt.«
    »Was haben die beiden getan?« Emily ahnte bereits, worauf die Geschichte hinauslief.
    »Einer der beiden Gaukler erklärt sich freiwillig dazu bereit, gefressen zu werden. Die Sphinx verspeist ihn, und dann offenbart sie dem anderen Gaukler, dass den Berg mit der Ziege nur jene Menschen erreichen können, für die jemand aus freien Stücken ein Opfer erbracht hat.«
    »Sie meinen, dass sich Dorian Steerforth deswegen geopfert hat?«
    »Ich bin mir nicht sicher, aber es könnte doch sein, dass man nur auf diesem Wege zum Tempel des Salomon gelangen kann. Dass jemand ein Opfer erbringen muss und den anderen dadurch den Weg zum Schloss bereitet.«
    »Einer aus der Mitte der Gemeinschaft setzt das Wohlergehen der anderen über sein eigenes.«
    »Sie sagen es!«
    »Aber warum?«
    »Weil es so geschrieben steht. Weil es der Welten Lauf ist. Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
    »Dr. Dariusz könnte es ihm befohlen haben.«
    »Sie misstrauen ihm noch immer, Wittgenstein?«
    »Ja.«
    Emily sagte leise: »Ich glaube ihm. Jetzt schauen Sie mich nicht so an. Ich tu es einfach.«
    »Wenn«, betonte ich, »er sich geopfert hat, damit wir ins Schloss gelangen können, dann sollten wir ihm dafür dankbar sein, und es sei dahingestellt, warum er es getan hat.«
    Die Alraun-Asseln jedenfalls waren uns nicht weiter gefolgt. Die Schreie des Aphroditen waren irgendwann in der Dunkelheit verebbt, und selbst als wir die Laternen wieder angezündet hatten, waren uns keine der Wesen mehr begegnet.
    »Ich glaube, dass er genug gehabt hatte«, flüsterte Emily mir zu.
    »Wovon?«
    Sie sah mich an, und der Schimmer der Laterne ließ helle Flecken auf ihrem Mondsteinauge tanzen. »Vom Leben. Er wollte ganz einfach nicht mehr leben.« Ja, genau das war es, was sie gespürt hatte, als sie ihm in der Synagoge begegnet war. Das war es, was ihn von der Person, die er damals in London gewesen war, unterschieden hatte. »Er wollte in seinem Leben endlich etwas tun, woran sich jemand gern erinnern würde.« Etwas, worauf er stolz sein konnte. Was seinem Leben einen Sinn gab, wie er es ausgedrückt hatte.
    »Ja, vielleicht haben Sie Recht.«
    Wir stiegen Stufe um Stufe empor.
    Näherten uns wohl dem Schloss.
    Doch hatten wir seit einiger Zeit jedes Gefühl für Raum und Entfernung verloren.
    Emily dachte über die Geschichte nach, die Tristan Marlowe erzählt hatte. Daran, dass sich Dorian Steerforth für uns alle geopfert hatte. Dass er sein Leben für das der anderen hergegeben hatte. Aus freien Stücken.
    Auch Lilith hatte dies getan, damals in St. Paul’s, als sie den Lichtlord aus der Laterne befreit hatte.
    Und Eliza, die des Daseins als Wiedergängerin überdrüssig geworden war, hatte in der Hölle als Gefäß für Lilith gedient.
    Der Engel Rahel hatte sein Leben gegeben, um die Lichtlady zu retten.
    Sogar sie selbst hatte einst ihr Augenlicht eingebüßt, um ihre Freundin vor dem Tod zu bewahren.
    Maurice Micklewhite war gestorben, weil er das Leben seiner Tochter höher geschätzt hatte als sein eigenes.
    Mièville und Dinsdale waren in Paris verschollen.
    Funktionierte die Welt nach diesen Regeln?
    War das die Wahrheit, die nicht einmal die Erwachsenen erkannten?
    Wurde einem erst dann etwas gegeben, wenn man dazu bereit war, etwas loszulassen?
    Und war dies dann nicht auch der endgültige Beweis dafür, dass es wahre Liebe geben musste? Eine Liebe, so hell und mächtig, dass sie alle Grenzen der Welt zu überschreiten vermochte, weil sie nicht länger die Liebe eines Menschen zu sich selbst war, sondern die Liebe zu jemand anderem über alles bisher Dagewesene stellte?
    War dies die Kraft, gegen die selbst der Träumer nichts auszurichten vermochte?
    Emily rieb sich müde die Augen. Für einen kurzen Moment flackerten all diese Gedanken vor ihr auf, flimmerten deutlich lesbar im Licht der Laterne und wisperten ihr Hoffnung zu.
    Dann kehrte die Kälte zurück und die bange Furcht vor dem, was oben im Schloss wohl auf sie warten würde.
    »Was werden wir tun, wenn wir die Lade des Bundes gefunden haben?«
    »Fragen Sie nicht mich«, gab ich ihr zur Antwort, und das war leider auch die einzige ehrliche Antwort, die ich ihr auf die Frage geben konnte. Ich wusste es nicht. Niemand wusste es.
    »Die Lade«, gab Tristan Marlowe zu bedenken, »ist kein Gegenstand, der für die Hände der Sterblichen

Weitere Kostenlose Bücher