Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen
Marlowe war zu seinem Hausboot zurückgekehrt, von dem er Emily zuvor noch nichts erzählt hatte. Ein kurzer, förmlicher Abschied war es gewesen. Einfach nur seltsam.
Doch darüber will Emily jetzt nicht nachdenken.
So bringt uns die alte Rolltreppe nach oben, wo dichter Schnee durch die Luft wirbelt. Der Wind ist eisig, wie er es auch am Tag unserer Abreise gewesen war. Es schneit, als gebe es kein Morgen mehr.
Alles ist also noch so, wie es war.
So sieht es jedenfalls aus.
Nichts hat sich verändert.
Nur wir uns.
Ein wenig.
Meine Schutzbefohlene trottet schweigsam neben mir her. Und erst als in der Ferne die hell erleuchteten Fenster unseres Heims auftauchen, da muss Emily unverhofft lächeln, ausgelassen und ganz verzückt.
»Was haben Sie?«
»Nichts«, sagt sie, doch wie sie es sagt, klingt es glücklich.
»Was ist passiert?«
Sie wirkt übermütig, ganz ohne Grund.
»Da war ein wunderbarer Gedanke.«
Dieses Kind!
»Und?«
»Ach, fragen Sie mich nicht«, antwortet sie mir hastig und beschleunigt ihre Schritte, die schneller und schneller und immer noch schneller werden. Schon beginnt sie zu laufen.
Ich folge ihr, so gut es geht. Was bleibt mir auch anderes übrig? Wir sind ja in Marylebone, fast schon daheim. Und als ich Emily so auf Hampstead Manor zustürmen sehe, da frage ich mich, ganz außer Atem, was, in aller Welt, wohl als Nächstes geschehen wird.
Buch III
Lumen
Zwischenspiel:
London anno 1890
Manchmal, so sagt man, findet man die Liebe, die man selbst gesucht und die einen wie von allein gefunden hat, und muss ihr so schnell wieder Lebewohl sagen, dass jener Moment des kurzen Hoffens niemals mehr richtig Vergangenheit zu werden vermag.
Martin Mushroom, einziger Erbe des Hauses aus Blackheath, begegnete der Frau, an die er sein Herz verlor, an einem Herbsttag, der so stürmisch und verregnet war wie die Zeit, in der sie beide lebten. Seit einem Jahr bereits suchten blutige Unruhen die Stadt der Schornsteine heim. Menschen trachteten einander nach dem Leben, nur weil sie bestimmten Grafschaften angehörten. Es gab Schuldige auf allen Seiten. Unrecht und Vergeltung trugen die gleiche Maske, und niemand konnte sie mehr auseinander halten.
Begonnen hatte dies alles im Eastend, im verwinkelten Straßenlabyrinth von Whitechapel. Fünf Prostituierte waren auf bestialische Art und Weise ermordet worden, von einem Unbekannten, der sich der Welt in Briefen als Jack the Ripper vorgestellt hatte. Die Menschen sprachen Verdächtigungen aus, und die niedersten Beweggründe bestimmten von nun an das Verhalten des erhitzten Pöbels. Selbst in der uralten Metropole hatte es Morde gegeben, grausame Verstümmelungen, die nur einem Monstrum zuzuschreiben waren.
Und dann, am 9. November des vergangenen Jahres, war Seine Lordschaft Nicodemus Manderley, Oberhaupt des alten elfischen Hauses vom Regent’s Park, am Miller’s Court ermordet worden. Mylady Eleonore Manderley übernahm von da an die Führung des großen Hauses, das über die meisten Länderein im Norden Londons gebot.
Am Ende waren es diese Geschehnisse, die das Leben des jungen Mannes prägen sollten.
Denn wie es das Schicksal wollte, verliebte er sich in niemand anderen als die junge Tochter der Familie Manderley. Es gab keine Intrige und war keine Absicht, nein, es passierte, wie im Leben die Dinge manchmal einfach so passieren.
Martin Mushroom begegnete Mia Manderley bei keinem offiziellen Anlass. Nein, er traf sie in der von Menschenmassen gesäumten Charing Cross Road, wo sie mit zwei Leibwächtern und einer gestrengen Gouvernante unterwegs war, um Einkäufe zu erledigen. So wunderschön und traurig war sie, wie sie die Straße entlangging. So voller Anmut und Liebreiz. Wie ein Engel erschien sie ihm an diesem düsteren Tag, und der Platz in Martin Mushrooms Herz, der bis dahin leer gewesen war, wurde von dem jungen Mädchen im tosenden Sturm besetzt, und der junge Mann wusste, dass sie auf ewig diesen Platz innehaben würde. Sie war ein Mädchen, das wusste Martin, wie es ihm kein zweites Mal im Leben begegnen würde.
Es war Liebe auf den ersten Blick.
Für Martin Mushroom.
Denn Mia Manderley, die noch immer in stiller Trauer war, sah den Mann, der sich auf der anderen Straßenseite im Schatten eines Hauses herumdrückte und sie beobachtete, gar nicht an. Vielleicht sah sie einen anderen Passanten, vielleicht gar jemanden ihres Alters. Doch sah sie niemanden, der ihre Welt an diesem Tag aus der Bahn geworfen hätte. Sie ging
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