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Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen

Titel: Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Mädchen nur auf, weil Wales weitab von London und seinen Intrigen lag und Mara dort gut vor den Augen der Mushrooms verborgen war.
    »Em’ly«, hatte Mara ihr zugerufen, als sie das Landgut am späten Nachmittag erreicht hatten.
    Flink war sie zu ihr gelaufen und hatte sie stürmisch umarmt.
    »Sie liebt dich.«
    Adam hatte dies festgestellt.
    Damals.
    Und wieder musste sie an ihn denken.
    Erinnerungen ließen sich nun einmal nicht so einfach verdrängen.
    Sie hatte Adam vertraut.
    Tat es immer noch.
    Damals, vor zwei Jahren, hatte Emily ihrer Schwester eine Schneekugel geschenkt.
    Jetzt, als sie durch den Schnee in der Edgware Road stapfte, erinnerte sie sich an jenen Tag, als sei sie noch immer dort, wo die tosende Brandung sich hinter den hohen Büschen und jenseits der schroffen Klippen versteckte. Adam hatte sie an der Hand gehalten, und sie selbst hatte Mara festgehalten, und so waren sie in den Garten hinausgegangen, dorthin, wo unter dem Schnee das legendäre Kaninchenloch gewesen sein mochte.
    Schnee war in der Nacht gefallen, und gemeinsam mit Mara hatten Emily und Adam einen Schneemann gebaut, wie Kinder es tun, wenn sie noch Kinder sind und nicht ahnen, welche Überraschungen die Welt für sie bereithalten kann. Ein großer Schneemann war es gewesen, mit einer langen Karottennase und tiefliegenden Augen aus pechschwarzen Kohlestücken und einem alten Zylinder auf dem runden Kopf, dessen Ränder zerfranst waren wie dickes Papier, an dem die Mäuse genagt haben.
    Die Schneekugel, die eine Spieluhr war und in deren Innerem sich ebenfalls ein Schneemann befand, hatten sie mit nach draußen genommen, weil Mara darauf bestanden hatte. Sie hatten die Kugel lachend geschüttelt und den winzigen Flocken darin beim Wirbeln zugeschaut. Dann hatten sie die Kugel dem großen Schneemann in die Hand gedrückt.
    Es war ein Augenblick, der immer noch lebte.
    In dem sie alle beisammen gewesen waren.
    Die glockenspielartige Melodie, die leise »Dream a little dream« spielt. Die Mädchen, die tanzen, während die dichten Schneeflocken ihnen in die Haare fallen, weil sie die Mützen schon lange verloren haben beim Herumtollen im Garten. Irgendwann lässt sich Mara von Emily hochheben, hält sich an ihr fest und legt ihr Köpfchen an Emilys Schulter. Ein sanftes, glückliches Lächeln lässt das Kindergesicht erstrahlen, und so tanzen sie, als gebe es kein Morgen, und Adam Stewart, der neben dem Schneemann steht, schaut ihnen dabei zu, und für einen kurzen Moment glaubt Emily jenes Glück greifen zu können, jenes warme, glitzernde Glück, das einen umarmt, wenn man weiß, dass man eine Familie ist.
    Später dann schickte Mara ihr die Melodie der Schneekugel immer dann, wenn sie spürte, dass Traurigkeit in den Träumen ihrer großen Schwester zu atmen begann.
    Und Emily lauschte den Klängen im Schlaf und wusste, dass die Welt niemals so schlimm sein würde, wie es sie die raunenden Träume glauben machen wollten.
    Doch dann, mit einem Mal, schwieg die Melodie.
    Mara schickte keine Bilder mehr.
    Es war nicht einmal ein allmähliches Ende; nein, ganz plötzlich war es geschehen.
    Dann hatte Emily erfahren, dass man Mara nach London gebracht hatte.
    Und damit hatte sich alles geändert.
    Nein, sie wollte jetzt nicht mehr an all das denken.
    Nur noch wenige Straßen, und wir würden zu Hause sein.
    »Darf ich Sie etwas fragen, Wittgenstein?«
    Ich hatte es geahnt.
    »Kann ich Sie daran hindern?«
    Ganz ernst betrachtete sie die Straße, die vor uns lag. Die Laternen, die den Schnee glitzern ließen. Nur wenige Taxis waren in dieser Nacht unterwegs. Still war es überall.
    »Gab es in Ihrem Leben …«
    Ich gebot ihr zu schweigen.
    Sah zum Licht einer der Laternen hinauf.
    »Tut mir Leid«, hörte ich das Mädchen neben mir sagen, »wenn ich …«
    Wir blieben stehen.
    Unter der Laterne.
    Ich streckte meine Hand aus.
    Schneeflocken ließen sich darauf nieder.
    »Manchmal«, erklärte ich meiner Begleiterin, »schwebt uns das Glück entgegen.«
    Emily betrachtete die Schneeflocken, die wie winzige Sterne meine kalte Hand bedeckten.
    »Wir ertrinken förmlich in der Anmut dessen, was wir sehen.«
    Ich schloss die Hand.
    »Doch wenn wir es festzuhalten versuchen …«
    Langsam öffnete sich die Hand wieder.
    Nur kaltes Wasser benetzte die Haut.
    Unerwartet brüchig war meine Stimme geworden. »Ich weiß genau, wie Sie sich fühlen.« Bilder, die niemals verschwunden waren, tanzten mit den Schneeflocken im Licht der Laterne.

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