Die uralte Metropole Bd. 3 - Lumen
hast mir nie erzählt, dass du das kannst.« Ganz erstaunt war Adam neben sie getreten.
»Ich kann das auch gar nicht«, hatte Emily ihm gestanden.
Gespielt hatte sie trotzdem.
Eine ruhige Melodie, die ihr in den Kopf gekommen war.
»Vielleicht«, suchte sie später nach einem möglichen Grund für ihr Talent, »liegt es daran, dass mein Vater Musiker gewesen ist.« Natürlich war ihr bewusst, wie dürftig diese Erklärung war, aber eine andere hatte sie nicht finden können.
Adam jedenfalls war begeistert gewesen.
»Jetzt können wir gemeinsam auftreten.«
Doch Emily hatte Adam in seiner Begeisterung gebremst. »Ich bin nicht gut genug, um vor anderen spielen zu können.«
Das war ihre Meinung gewesen.
Und daran hatte sie festgehalten.
Bis heute.
Niemals hatten Adam und sie gemeinsam ein Lied gespielt.
Dafür aber hatte Emily heimlich in der Abgeschiedenheit Hampstead Manors geübt.
»Ich hoffe, es stört Sie nicht.«
Immerhin hatte sie mich gefragt.
»Spielen Sie nur«, hatte ich sie beruhigt.
Von da an hatten die Klänge regelmäßig das Haus mit Tönen gefüllt.
Leises Streichen.
Raues Kratzen.
Punktierte Rhythmen.
Hüpfende Stakkati.
Je nach Laune.
»Sie ist begabt«, beliebte Peggotty oft zu sagen.
»Bin ich nicht«, widersprach Emily dann.
Und dennoch spielte sie und hatte Freude daran.
Als sie mit der Musik begonnen hatte, da hatte sie Mara fast täglich ihre Melodien geschickt, und dann, als ihre kleine Schwester nach London gebracht worden war, hatte sie nur noch für sich selbst gespielt. Die kurzen Intermezzi in der Küche oder dem Salon blieben vollständig aus, und man hörte nur mehr das leise Klagen der Geige von weit oben aus ihrer Dachkammer.
Für Adam Stewart hatte sie niemals gespielt.
Richtig bewusst wurde ihr das jedoch erst, als er fort war.
Jetzt spielte sie für Aurora Fitzrovia, der die Nebel nichts angetan hatten in dieser seltsamen Zeit und die (und das war überhaupt das Allerwichtigste) zu ihrer Freundin zurückgekehrt war.
Während ich mich mit einem Buch und einer Tasse Kräutertee in einen der Wintergärten zurückgezogen hatte, fanden die Freundinnen wieder zueinander, und der langsam schwebenden Melodie, die Emily spielte, merkte man an, dass die Welt dabei war, sich neu zu ordnen.
»Ich habe dich vermisst.« Das war es, was Emily zu Aurora gesagt hatte, als wir alle in die Küche hinuntergegangen waren. Vorher hatten wir uns voller Argwohn versichert, dass sich kein Nebel mehr im Haus herumtrieb.
»Wir haben viel zu reden«, meinte Aurora.
Und so waren die beiden in Emilys unaufgeräumter Kammer verschwunden, wo sie den Rest dieser kurzen Nacht redeten, wie sie es schon lange hätten tun sollen.
Emily machte den Anfang und erzählte von Adam Stewart und Paris und ihrem Kummer und der Rückkehr nach Rotherhithe und von Mara und von dem, was ihrer Mutter Schreckliches zugestoßen war. Sie redete und redete und konnte gar nicht mehr damit aufhören, und es tat so gut, all die Worte einfach nur ausatmen zu können und zu sehen, wie sie ihren Weg dorthin fanden, wo sie hingehörten.
»Es tut mir so Leid.« Aurora wusste, was Verlust bedeutete.
Emily stand am Fenster und sah nach draußen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie geredet hatte. Draußen sah sie die verschneiten Dächer Londons. Rauch quoll aus hunderten von Schornsteinen in den frühen Morgenhimmel, der grau und hell und im Osten leicht rötlich aussah.
Noch immer hielt sie die Geige in der Hand.
»Ich habe dich gar nicht zu Wort kommen lassen«, sagte Emily und fühlte sich geradezu schuldig.
»Kein Problem.« Aurora trat neben sie. »Bei mir gibt es kaum Neues zu berichten.«
Sie lächelte.
Dachte ans Waisenhaus.
Legte die Hand auf Emilys Schulter.
»Weißt du noch, damals?«
Emily sah sie an.
Damals …
»Wir hören uns an wie alte Leute.«
Beide lachten.
Ganz leise.
Dachte an jenen Abend, an dem sie über Maurice Micklewhites Tod und das Auftauchen von Little Neil Trent auf dem Friedhof und Lilith und Lycidas und so vieles mehr noch gesprochen hatten. An diesem Fenster hier hatten die beiden Mädchen vor zwei Jahren gestanden und lange geschwiegen, denn die Stille, die manchmal zwischen ihnen gelebt hatte, war keine unangenehme Stille gewesen. Schweigen, das wussten beide, war eine Kunst, die nur wenige beherrschten.
Schließlich war es Emily gewesen, die gesagt hatte: »Wir werden alles gemeinsam durchstehen. Was da auch kommen mag.« Jetzt wiederholte Emily die Worte
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