Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Titel: Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
dem Wasser, und der Magistrat und seine Helfer begutachteten mein Werk.
    »Ich spuckte Wasser, erbrach mich, lag hustend im Dreck, während die guten Bürger von Salem eine Hexe erkannten, wenn sie eine sahen. Ich spürte, wie die Menge zu toben begann. Einen besseren Beweis dafür, dass ich eine Hexe war, hätten sie kaum bekommen können.«
    Das Urteil wurde schnell gefällt. Am Morgen des nächsten Tages sollte ich verbrannt werden.
    »Sie sperrten mich in einen Käfig, an dem jeder vorbeigehen konnte. Wie ein Tier.«
    Nie hätte ich gedacht, wie viele an diesem Abend vorbeikommen würden, um mich aus der Ferne zu verhöhnen. William Grigg, der mir Lesen und Schreiben beigebracht hatte, drückte seine bitterste Enttäuschung aus, weil ich vom rechten Weg abgekommen sei. Betty und Abigail erschienen und weinten, weil ich noch immer Macht über sie besäße.
    »Tief in der Nacht öffnete ich den Käfig und floh.«

    Das ist alles.
    »Es machte mir keine Mühe, die Siedlung zu verlassen.«
    Ich war zwölf. Ich wusste nicht genau, wohin ich gehen sollte, aber es würde da schon ein Ziel geben, das anzustreben sich lohnte. Es würde gewiss ein Trupp losgeschickt werden, um mich zu suchen. Ich musste also schnell sein, wollte ich nicht eingefangen werden.
    Ich ging vor dem Morgengrauen und war fort aus der Gegend, als die Sonne hoch am Himmel stand. Als ich den Wald verließ, da hörte ich die Turmuhr in Salem zehnmal schlagen. Sie hätte meinen sicheren Tod eingeläutet, wäre ich dort im Käfig geblieben.
    »Seit diesem Tag weiß ich, dass die Menschen niemals Dinge akzeptieren, die sie nicht verstehen. Sie mögen nicht, was anders ist. Seit diesem Tag weiß ich, dass Trickster sich besser verstecken und im Stillen agieren.«
    Ich überquerte Flüsse, lief durch Wälder, streifte über Wiesen. Manchmal kam ich an einer Farm vorbei, deren Familie ich kannte. Trotzdem traute ich mich nicht, um Essen zu bitten. Ich war eine Ausgestoßene, alle wussten das, wirklich alle. Es gab niemanden mehr, zu dem ich hätte gehen können, so einfach war das.
    Tage und Nächte kamen und gingen.
    Ich lief, bis meine Füße wund waren. Ich ernährte mich nur von Kräutern. Von Beeren.
    »Dann traf ich Grey Crow. Und alles änderte sich.«
    »Toller Name.«
    »Eigentlich hieß er Wahunsonacock, aber ich durfte ihn Grey Crow nennen.«
    Scarlet musste schmunzeln.
    »Grey Crow«, fuhr ich fort, »war einst ein Häuptling der
Powhatan gewesen. Sie hatten seine Tochter entführt, um einen dauerhaften Frieden zu erzwingen, im Jahre 1613.«
    Während der Gefangenschaft wurde Pocahontas in englischen Sitten und der anglikanischen Religion unterrichtet. Schließlich heiratete sie und begab sich als Lady Rebecca ins Land ihrer Häscher, wo sie kurz vor der Rückreise an Pocken starb.
    Grey Crow, untröstlich über den Verlust der Tochter, dankte ab und übergab die Führung seines Volkes seinem Halbbruder Opechancanough, der umgehend den nächsten Krieg anzettelte. Grey Crow aber ging auf Wanderschaft durch die unterirdischen Pueblo-Reiche, die von den Mésas im äußersten Westen bis nach Neuengland gewandert waren, weil die gefiederten Schlangen immer öfter über den rot glühenden Himmel des Westens zogen. Grey Crow wurde Schamane und lebte lange Zeit dort unten in den tiefen Höhlen von Narrangansett Bay.
    Als er dann im Jahre 1692 durch die Wälder von Massachusetts streifte, da traf er auf ein zwölfjähriges wildes Mädchen, das die Gräser und Blätter streicheln konnte, indem sie nur daran dachte, dies zu tun.
    »Grey Crow nahm mich auf wie eine Tochter«, bekannte ich. »Er zeigte mir all das, was er wusste. Ich wurde in der Geschichte der rechtmäßigen Einwohner dieses Landes unterrichtet, lernte Pflanzen und Tiere kennen, wurde eine Heilerin und eine Schamanin.«
    Er zeigte mir, wie man sich in Trance-Zustände begeben und anschließend in einer Geistvision fliegen kann, wie man eine Aura sehen und heilen kann. Er war mein Ziehvater, nicht weniger. Er zeigte mir die Welt, die wirklich war und doch im Verborgenen schlummerte.

    Die weißen Siedler, die sich wie eine Krankheit über das Land der ursprünglichen Völker ergossen, konnten nicht richtig sehen. Ihre Augen waren blind für das, was offensichtlich war. Sie trieben Eisenbahnschienen durch die Wälder, über Flüsse, durch Berge hindurch. Sie führten Orte zusammen.
    Die Zeit selbst wurde verändert. Brauchte man früher zwei Monde, um von einem Ort zum nächsten zu gelangen,

Weitere Kostenlose Bücher