Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
so war dies auf einmal binnen eines einzigen Tages möglich.
»Die Zeit, Miss Scarlet, geriet aus den Fugen.«
»Weil die Menschen sie nicht mehr wahrnahmen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Weil die Menschen sie falsch wahrnahmen. Und es immer noch tun. Die Zeit ist ein Weg, den wir beschreiten. Sie ist ein natürlicher Fluss aller Dinge. Es ist nicht gut, wenn die Dinge schneller geschehen. Das Herz und die Seele bleiben zurück.«
Scarlet blickte nachdenklich nach draußen ins Schneegestöber. »Gotham ist eine hektische Stadt.«
»Sie sagen es.« Ich folgte ihrem Blick. »Die Gildehändler haben sogar einmal versucht, die Zeit selbst zu überlisten. Sie wollten einen Ort schaffen, an dem die Gesetze der Zeit keine Gültigkeit mehr haben. Man hätte Geschäfte abschließen können, ohne sich zeitlichen Begrenzungen unterordnen zu müssen. Nacht und Tag wären eins geworden. Kein Gildehändler hätte mehr schlafen müssen.« Ich warf ihr einen warnenden Blick zu. »Deshalb wurde die Mauer errichtet. Die Zeit sollte ferngehalten werden. Und innerhalb der Mauer errichteten die Gildehändler eine Festung aus Zahlenwerk und Rechenkunst. Sie huldigten einer Gottheit, die grün und giftig war wie ein Dollarschein.« Ich erinnerte mich an den Tag, an dem Grey Crow mir die Geschichte erzählt hatte. »Doch da erschienen die Geister der vergangenen und zukünftigen Jahre
und rissen die Festung ein. Keinen Stein ließen sie auf dem anderen. Auf den Trümmern, da ließen sie eine breite Straße bauen. Und jedermann, der dort arbeitete, würde das, was die Gildehändler einst angestrebt hatten, niemals besitzen.«
»Wall Street«, sagte Scarlet nur.
»Deswegen haben alle, die dort leben, niemals Zeit. Es ist der Fluch der alten Geister.«
Sie starrte mich überrascht an. »Ist das wahr?«
»Alles, was wir glauben, ist wahr, Miss Scarlet. So funktioniert die Welt. Die Menschen in Salem glaubten fest daran, dass all die armen Seelen, die sie den Flammen überantworteten, Hexen waren. Sie waren davon überzeugt, Gutes zu tun.« Verträumt betrachtete ich eine Schneeflocke, die sich auf dem Fensterglas niedergelassen hatte. »Die Welt ist immer nur so groß, wie wir sie uns zu denken vermögen.«
»Und die Höhlen von Narrangansett Bay?«
»Sie waren wie die uralte Metropole«, sagte ich.
Die uralten Höhlen, so Grey Crow, waren schon immer in der Erde gewesen. Erst später seien sie von den Menschen besiedelt worden, aber die Schamanen aus alter Zeit hatten schon gewusst, dass dies Orte voller Magie und Schrecken waren. Es gab Geschichten von Wanderern, die sich in die Höhlen begaben und nach sehr vielen Jahren zu ihrem Stamm zurückkehrten, noch so jung wie damals, als sie fortgegangen waren. Sie kehrten zurück, und ihre kleinen Schwestern waren zu alten Frauen geworden.
Überall im Land fände man Höhlen wie die Pueblo-Höhle, in der die Algonkin lebten.
Grey Crow lebte dort und gab mir ein Zuhause.
»Einige Jahre später machte er mir ein Geschenk. Es war mein vierzehnter Geburtstag. Das war anno 1732. Sie sehen,
es ist so eine Sache mit der Zeit.« Ich wusste, wie verwirrend dies alles am Anfang sein konnte. »Er sagte, dass mich das Geschenk immer daran erinnern sollte, dass ich den Menschen nicht trauen dürfe. Sie mochten lächeln und Verständnis heucheln, am Ende war Vertrauen in sie jedoch trügerisch.«
»Was war das für ein Geschenk?«
Ich lächelte versonnen und gleichsam ernst. »Die Turmuhr von Salem. Grey Crow war mit einigen Kriegern des Nachts in die Kirche eingedrungen. Sie hatten die Uhr komplett ausgebaut.«
Scarlet schaute auf. »Sie ziert jetzt Myrtle’s Mill.«
»Sie sagen es. Ich ließ sie dort einbauen. Damit ich niemals vergesse, wie die Menschen sind, wenn sie ihre Masken fallen lassen.«
»Und was geschah dann?«
»Grey Crow starb. Ich verließ die Pueblos und ging nach New York. Das war im Jahre 1827. Das Jahr, in dem in Gotham die Sklaverei abgeschafft wurde.« Ich hielt inne. »Und hier sind wir jetzt.« Ich schloss die Augen, und alte Bilder kehrten zurück. »Ich kaufte den Ort, an dem jetzt Myrtle’s Mill steht.« Ich sah Scarlet an und vergewisserte mich, dass sie mir noch zuhörte. »Nun, die Mühle gab es schon damals. Aber sie war anders, wie Sie sich denken können.«
»Woher hatten Sie das Geld?«
»Indianergold«, sagte ich. »Grey Crow war ein Häuptling gewesen, und seine Vorfahren hatten bei den Feldzügen gegen die gefiederten fliegenden Schlangen des Westens
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