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Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia

Titel: Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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als ich ein junges Mädchen war.«
    »Wann war das?«
    »1692.«
    Scarlet starrte mich an.
    »Jetzt fragen Sie mich bestimmt, ob ich wirklich so alt bin. Und ich werde lächeln und erwidern, dass ich mich dafür doch noch gut gehalten habe, nicht wahr?«
    »Möchten Sie es mir erzählen?«
    Ich musste nicht einmal lange überlegen. »Ja.«
    Und während draußen erneut dicke Schneeflocken auf die Stadt der zwei Flüsse niedergingen, entführte ich Scarlet
Hawthorne nach Massachusetts, in die ländlichen Kolonien, wo ich aufgewachsen war.
    »Ich wurde in London geboren«, so begann die Geschichte. »Wann genau das war, kann ich nicht sagen. Anno 1680, grob geschätzt. Plus/minus einige Jahre. Ich kannte meine Eltern im Grunde nicht. Sie gaben mich als Kind fort, so einfach war das. Bis heute habe ich keine Ahnung, was sie dazu bewogen hat. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie die Welt damals roch. Am Ufer der Themse überantworteten sie mich einem Mann namens William Griggs. Er war Arzt, ein netter und guter Mensch. Er nahm mich mit nach Massachusetts in Neuengland, wo er sich niederzulassen gedachte. Ich war nur ein kleines Mädchen und hatte überhaupt keine Wahl.«
    Ich nahm meine Eltern noch als Silhouetten wahr, die sich am Hafen nicht einmal von mir verabschiedeten. Die Themse roch nach Dunkelheit, Fäulnis und Dreck.
    »Sie gaben mich einfach so fort«, wiederholte ich. »Vielleicht lag es daran, dass manchmal seltsame Dinge passierten, wenn ich in der Nähe war.«
    »Dinge?«
    »Gegenstände schwebten. Dinge bewegten sich, ohne dass sie jemand berührte.«
    »Sie sind eine Trickster.«
    »Meine Mutter muss elfisch gewesen sein. Wegen der Augen«, sagte ich nur.
    »Was haben Sie getan?«
    »Damals«, antwortete ich, »damals wusste ich natürlich nicht, was überhaupt ein Trickster war. Ich wusste nur, dass es normal war, diese Dinge tun zu können. Aber ich ahnte auch, dass dies etwas war, was ich nicht mit jedermann teilen
konnte. Die Menschen, die es sahen, reagierten verschreckt und mieden mich.«
    Sie gaben mich William Griggs. Vermutlich erhielten sie im Gegenzug eine kleine Entschädigung, wer kann das heute schon noch sagen?
    »So kam ich jedenfalls nach Amerika.«
    Für William Griggs war ich weniger als eine Tochter und nicht mehr als eine Dienstmagd. Er behandelte mich allerdings gut, züchtigte mich nur selten mit dem Stock. Er brachte mir Lesen und Schreiben bei, las mir aus der Bibel vor und hielt mir allzeit vor Augen, dass wir dem Schöpfer zu danken haben.
    »Der Ort, an dem er sich niederließ, war Salem Village, eine kleine Gemeinde in Massachusetts.
    Wir lebten erst zwei Jahre dort, als es zu seltsamen Vorkommnissen kam. Ich hatte nicht viele Freundinnen, weil ich ein ungeschicktes Kind war.« Das war die Stelle, an der Scarlet sanft lächeln musste. »Ich machte Dinge kaputt, tat mir selbst weh, war einfach ungeschickt.« Ich zog eine Grimasse. »Und hübsch war ich auch nicht.« Die Erinnerungen waren wirklich noch so frisch, als sei mir erst gestern all das widerfahren, woran ich nicht mehr zu denken versucht hatte während der vergangenen Jahre. Ja, es war noch alles da, und es würde niemals verschwinden. Die schlimmen Erinnerungen gehen eben niemals so ganz fort.
    Müde rieb ich mir die Augen.
    »Es gab da jemanden«, fuhr ich fort und nannte den Namen: »Tituba.«
    Tituba, die auf dem Hof neben unserem Haus arbeitete, glaubte nicht an den Gott, zu dem die Gemeinde betete. Tituba stammte aus dem Süden, und sie hatte eine ganz eigene
Art, mit der Natur zu sprechen. Sie konnte die Karten legen und Krankheiten weissagen, sie konnte die wilden Kräuter bestimmen und die Tiere in den Wäldern benennen. Sie wusste so viel, was niemand sonst jemals wissen wird. Darüber hinaus konnte sie sich in die Gedanken anderer Menschen einschleichen und sie Dinge tun lassen, die sie nicht tun wollten.
    »Tituba war eine Trickster«, fasste ich eine lange Geschichte kurz zusammen, »und als ich neu in der Kolonie war, da bemerkte sie sehr schnell, dass ich war wie sie.«
    Eines Nachmittags nahm sie mich zur Seite, wir gingen hinter die Scheune. Sie trug einen Korb mit Eiern, die sie gerade aus den Nestern geholt hatte. Eines der Eier hielt sie in der Hand, hoch über dem Kopf, und dann ließ sie es los. Instinktiv fing ich das Ei auf, doch nicht mit meinen Händen, so schnell hätte ich gar nicht reagieren können. Das Ei fiel nicht zu Boden, nein, es schwebte auf Höhe der Grashalme über der

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