Die uralte Metropole Bd. 4 - Somnia
Hölle. Die Engel glauben, dass sie diejenigen sind, die dem Träumer im Traum eine Falle stellen. Und am Ende ist
es eine Falle, die über den Engeln zuschnappt. Und Keanu? Er war tot, und nichts würde ihn wieder lebendig machen.
»Was habe ich getan?«, flüsterte Scarlet.
Sie weinte.
Morpheus sah sie aus dunklen Augen an. »Sie haben das Richtige getan.« Er lächelte, wie nur ein Ewiger es tun kann. Dann verließ er den Raum, das Plaza , den Ort, der die Hölle war.
»Sie haben getan, was Sie tun sollten«, sagte Lucifer.
Lilith berührte Scarlets Kinn, lächelte sanft. »Das Leben, Miss Hawthorne, geht weiter.« Sie benetzte ihre Finger mit Scarlets Tränen. Sie kostete sie. »Schon bald werden Sie zu sehen lernen.«
Dann verließen auch der Lichtlord und Lilith das Plaza .
Einzig Virginia Dare, das Wintermädchen, blieb bei uns.
Wir verließen das Plaza und traten hinaus in die Nacht. Central Park South lag noch immer verlassen da. Scarlet blickte zurück zur Fassade des Hotels, in dem so viele tote Engel zu Staub verwehten. Virginia Dare war still und eisig wie vorhin, doch etwas war anders. Scarlet glaubte, dass es ihre Augen waren. Das Eis darin schien Risse bekommen zu haben.
»Warum tun Sie das?«, fragte Scarlet.
Wir gingen in den Park hinein, folgten dem gelben Steinweg in die entgegengesetzte Richtung.
»Ich bringe Sie zurück«, sagte Virginia Dare.
»Warum?«
»Der Weg zurück«, sagte sie nur, »führt dort entlang.«
Ihre schneeweißen Haare wehten sanft im Wind.
»Wo ist Morpheus?«, fragte ich.
»Er ist fort. Dies ist seine Welt. Er kann tun und lassen,
was er will. Er hat erreicht, was er wollte. Warum sollte er bleiben?«
»Und Ihre Eltern?«
Virginia Dare schaute zu Boden. Etwas in ihren Augen schien zu splittern, als seien die Tränen, die sie nicht zu weinen vermochte, unter der Oberfläche verborgen. Schließlich sagte sie: »Lucifer und Lilith waren nie da, wenn ich Eltern brauchte.« Sie ging weiter, schnellen Schrittes überquerte sie die Bow Bridge. »Jetzt sind sie im Palm Court. Sie sind bei Pairidaezas Stock. Dort warten sie auf uns.« Dann schwieg sie, und wir folgten ihr.
Scarlet verstand nicht wirklich, was sie meinte. Warum warteten sie im Palm Court, wenn wir doch gerade das Hotel verlassen hatten?
Etwas stimmte hier ganz und gar nicht.
Wir erreichten die Terrasse zwischen dem See und der Mall, das runde Herz des Parks. Bethesda Fountain, der Brunnen, lag still da. Schnee lag überall. Sogar auf dem Kopf des Engels der Wasser.
Angel of the Waters.
In der wirklichen Welt war er eine Erinnerung an den Croton-Aquädukt, der die Stadt einst mit Wasser versorgte. Scarlet musste an die Flucht denken, an Jake und das Motorrad, mit dem sie durch die Kanäle der uralten Metropole gerast waren.
Sie vermisste Jake so sehr.
Da sah sie die dunkle Gestalt, die hinter dem Brunnen hervorkam. Sie war nur ein Schattenriss, doch dann wurde sie konkret. Sie trug einen langen Mantel und Handschuhe, dazu einen langen Schal. Das blasse Gesicht wurde umrahmt von schwarzem schulterlangem Haar, das an vielen Stellen
schon greise Strähnen aufwies. Die Gestalt trat weiter aus den Schatten heraus, und es waren schmale dunkle Augen, die uns musterten.
»Miss Dare«, sagte der Mann mit einer tiefen Stimme und einem starken britischen Akzent. Cockney, unterlegt mit einem Hauch von schottischer Melodie. Es klang, wie immer wenn Engländer redeten, ein wenig arrogant. »Wo …?« Der Mann sah aus, als habe er ein Gespenst erblickt. Er verstummte augenblicklich.
»Mistress Atwood«, flüsterte Scarlet.
»Ja?«
»Bitte, bleiben Sie jetzt bei mir.«
Ich nickte ihr nur zu.
Wich nicht von ihrer Seite.
Der Mann in Schwarz blieb vor uns stehen.
»Darf ich vorstellen«, sagte Virginia Dare. »Master Wittgenstein.«
Er starrte Scarlet nur an. Die schmalen dunklen Augen lie ßen nicht erkennen, was er dachte. Scarlet stand ebenfalls nur still da, und der Augenblick, auf den sie ein Leben lang gewartet hatte, wehte ihr mit dem kalten Wind um die Ohren. Sie konnte den Blick nicht von dem Mann lösen. Sie war sich bewusst, dass sie ihn anstarrte.
Er hatte eine schiefe Nase. Und ja, er mochte im gleichen Alter sein wie ihre Mutter. Er wirkte mürrisch, hatte, im Gegensatz zu Rima, eine ungesunde Gesichtsfarbe, die ihn grimmiger und kränklicher wirken ließ, als er es wohl war. Er fasste sich mit den Händen an den Mund, atmete schwer. »Es ist ein Traum«, sagte er nur. »Es kann nur
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